Die Elektromobilität könnten sich nach Ansicht des VDI-Landesvorsitzenden Wilhelm Bauer schneller durchsetzen als bislang erwartet. Das hätten mittlerweile auch die hiesigen Autobauer erkannt, sagt der Ingenieur im Interview.

Stuttgart - Klassische Ingenieurdisziplinen werden nach Ansicht des VDI-Landesvorsitzenden Wilhelm Bauer auch in der digitalen Welt gebraucht. Die Zukunft liege in der intelligenten Verknüpfung analoger und digitaler Komponenten.

Herr Bauer, in diesem Jahr wird der Württembergische Ingenieurverein 140 Jahre alt. Wie hat sich der Ingenieurberuf in dieser Zeit verändert?
Ganz erheblich. Früher gab es lediglich Bauingenieure, Maschinenbauer und Elektrotechniker. In den 1970er-Jahren kam die Informatik als wichtige Disziplin hinzu. Heute müssen Ingenieurinnen und Ingenieure Allrounder sein und vor allem systemisch denken und handeln.
Die Grenzen zwischen Maschinenbau und Software verschwimmen zusehends. Was bedeutet das für die Ingenieursausbildung?
Die Ingenieurwissenschaften müssen mehr als andere Disziplinen agil und flexibel sein, um auf die sich immer schneller ändernden technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Anforderungen reagieren zu können. Dazu gehört, jenseits und zwischen den Disziplinen Maschinenbau, Elektrotechnik, Informatik und Bauingenieurwesen neue Disziplinen zuzulassen und vorzudenken. Beispiele dafür sind Produktionsinformatiker, Medizintechniker oder Wirtschaftsingenieure. Ingenieurinnen und Ingenieure müssen vermehrt IT-Kompetenzen entwickeln, um das Zusammenspiel von Hard- und Software zur intelligenten Vernetzung von Maschinen, Objekten und Menschen realisieren zu können.
Gerät angesichts des Hypes um Software und datenbasierte Dienstleistungen das klassische Ingenieurswesen ins Hintertreffen?
Digitale Plattformen und Geschäftsmodelle erfahren gerade viel öffentliche Aufmerksamkeit – und sie werden für die Wertschöpfung in der Tat immer wichtiger. Gebraucht wird aber beides. Auf der einen Seite wird auch in Zukunft der „analoge Ingenieur“ wichtig sein, der Maschinen und technische Systeme entwirft, die dann aber in die digitalen Prozesse der Unternehmen und ihrer Kunden integriert werden müssen. Die Autoindustrie geht das jetzt ja auch mit Macht an, genauso wie der Maschinenbau. In den USA wird die Schnittstelle zwischen analoger und digitaler Welt dagegen oft nur stiefmütterlich behandelt.
Die Auswirkungen der Elektromobilität auf die Standorte der Autobauer sind derzeit ein großes Thema. Könnte der Durchbruch des Elektroautos schneller kommen als erwartet?
Auf den ersten Blick sieht es nicht so aus. Die Bundesregierung hat erst kürzlich ihr Ziel von einer Million E-Autos im Jahr 2020 kassiert. Es gibt ja auch gute Gründe dafür, dass sich die Elektromobilität langsamer entwickelt hat als noch vor ein paar Jahren erwartet. So sind die Batteriepreise nicht so stark gesunken wie ursprünglich angenommen. Ein Faktor ist aber sicher auch, dass die Industrie zunächst nicht so dynamisch an das Thema herangegangen ist. Doch das hat sich mittlerweile geändert – die Autobauer kümmern sich nun massiv um die E-Mobilität.
Haben die Unternehmen das Tempo des Wandels unterschätzt? In der digitalen Welt können Veränderungen rasend schnell gehen. Das Smartphone hat unsere Kommunikation in weniger als zehn Jahren revolutioniert.
Es könnte durchaus sein, dass wir auch bei der Elektromobilität in den nächsten zehn Jahren einen Punkt erreichen, an dem die Dinge sich ziemlich schnell ändern. Man spricht bei Digitaltechnologien von den sogenannten tipping points. Das sind die Punkte, an denen neue Geschäftsmodelle zum Fliegen kommen. Das gilt ein Stück weit auch für die E-Mobilität, die sich immer stärker mit Digitaltechnik verbindet – etwa in Form von Mobilitätsplattformen im Internet.
Manche befürchten, IT-Unternehmen aus dem Silicon Valley könnten unseren Maschinen- und Autobauern den Rang ablaufen. Pessimisten glauben sogar, dass deutsche Konzerne am Ende nur noch Bleche für IT-Giganten biegen könnten.
So weit wird es nicht kommen. Ich glaube da an unsere Innovationskraft. Richtig ist, dass IT-Unternehmen immer stärker in die Realwirtschaft hineindrängen – etwa im Bereich Industrie 4.0 oder beim Internet der Dinge. Und einige fangen auch an, selbst Autos und ähnliches zu bauen. Aber auf diesen Märkten sind wir bereits sehr präsent. Wir müssen es nur schaffen, den wachsenden digitalen Anteil mit abzudecken. Wenn wir das hinbekommen, werden wir nicht als Zulieferer der IT-Konzerne enden. Kurz: Wir sind nicht schlecht vorbereitet auf dieses Rennen – aber gewonnen haben wir es noch lange nicht.
Was ist zu tun?
Wir müssen schneller und agiler werden. Die klassischen Schritt-für-Schritt-Innovationen sind zu langsam. Deshalb müssen Unternehmen ihre Innovationsprozesse neu organisieren. Beispiele dafür sind Kooperationen mit Start-ups oder die Einrichtung von Bereichen außerhalb des Tagesgeschäfts, in denen man auch mal radikal anders denken kann.
Lässt die Ingenieurausbildung genug Raum für verrückte Ideen – die ja oft am Anfang technischer Revolutionen stehen, wie bei Apple, Tesla oder Uber?
Naturgemäß bieten die typischen Studiengänge solche Angebote nur bedingt. Aus meiner Sicht haben wir an den Hochschulen aber jetzt schon genügend Freiräume, um Studierende zum kreativen und disruptiven Denken und Handeln zu animieren – etwa sogenannte Open Spaces. Unter der Schirmherrschaft des VDI gibt es ein Projektformat namens „Formula Student“, wo Studierende ein Semester pausieren und nach Herzenslust an einem Formel-1-ähnlichen Renner basteln können. Dabei entstehen viele verrückte und vor allem gute Ideen.
Auf welchen Feldern haben die Ingenieure der Zukunft die besten Berufschancen?
Das Schlüsselwort lautet „Digitale Transformation“. Dabei geht es um die Vernetzung der Produktion im Rahmen von Industrie 4.0 und das Internet der Dinge. Auf diesen Feldern werden künftig Ingenieurinnen und Ingenieure tätig sein, die komplexe cyber-physische Systeme entwerfen und sie in neue Geschäftsmodelle einbinden. Aber auch in anderen Bereichen, die einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen, bieten sich hervorragende Chancen. Beispiele dafür sind die Energiewende, neue Mobilitätssysteme, Smart Cities oder die Digitalisierung des Gesundheitswesens.
Welche Schlüsselqualifikationen sind nötig?
Ingenieurinnen und Ingenieure der Zukunft müssen neben ihren Fachkenntnissen sowie IT-Kompetenzen eine Vielzahl weiterer Schlüsselqualifikationen erlernen und permanent weiterentwickeln. Sie müssen in Systemen und Kreisläufen denken, mit Komplexität umgehen können, interdisziplinär und teamfähig handeln, wissenschaftsmethodisch kompetent sein. Zudem brauchen sie Kommunikations- und Organisationsfähigkeit sowie Kennnisse im Projektmanagement. Entscheidend ist auch die Bereitschaft, lebenslang dazuzulernen. Wir müssen also sehr viel tun im Bereich Aus- und Weiterbildung – auch in den Ebenen unterhalb der Ingenieure, wo viele Stellen durch die fortschreitende Automatisierung bedroht sind. Die Nachfrage nach höher qualifizierten Mitarbeitern wird dagegen weiter steigen.