Psychologe Jérôme Endrass
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Es gebe nicht die eine Erklärung, was einen Menschen dazu bringe, sein Kind zu töten, sagt Jérôme Endrass, der Leiter der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie an der Uni Konstanz im Interview. Allerdings geschehe so etwas nicht aus heiterem Himmel.

Konstanz - Jérôme Endrass (47) will nicht spekulieren. Vielleicht habe Rache bei der Tat in Villingendorf eine Rolle gespielt, sagt der Leiter der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie der Universität Konstanz. Aber „in der Regel gibt es im Vorfeld Auffälligkeiten“.

Herr Endrass, dieser Fall löst Entsetzen aus: Ein Vater erschießt seinen sechsjährigen Sohn und tötet zwei weitere Menschen – was treibt jemanden an, so etwas zu tun?
Dafür gibt es nicht die eine Erklärung, das Auslöschen einer Familie ist jeweils ein hochspezifischer Einzelfall. Zumeist weisen die Täter aber deutliche Merkmale in ihrer Persönlichkeit auf, die mit Gewalt in Zusammenhang stehen. Es sind nicht unauffällige, friedliebende Menschen, die ihre Familien töten. In der Regel gibt es bereits im Vorfeld Auffälligkeiten.
Sind diese Täter psychisch krank?
Häufig sind diese Täter nicht im engeren Sinne psychisch krank. Aber sie haben sehr oft problematische Persönlichkeitsstrukturen, sind etwa sehr impulsiv oder stehen Gewalthandlungen positiv gegenüber.
Ist im aktuellen Fall Rache ein Tatmotiv ?
Das kann sein. Aber ich möchte nicht aus der Distanz Schlüsse ziehen. Das muss man sich sehr genau anschauen.
Nehmen Familienauslöschungen zu?
Gott sei Dank nicht. Es gibt zeitlich bedingte Häufungen. Gerade bei sehr schweren Gewaltdelikten wie Familienauslöschungen oder Amokläufen gibt es Nachahmereffekte. Da sind auch die Medien in der Verantwortung: Wenn Porträts von Tätern gezeigt und viele Details über sie veröffentlicht werden, kann das Menschen dazu animieren, ihre Tötungsfantasien auszuleben.
Sind Männer öfter Täter als Frauen?
Das ist unterschiedlich. Wenn sehr kleine Kinder getötet werden, sind Frauen deutlich überrepräsentiert. Je älter die Kinder sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Vater der Täter ist. Der schlimmste Fall, in dem eine Frau ihre Familie getötet hat und an den ich mich erinnern kann, war 2010. Damals hat eine psychiatrisch schwer auffällige Frau in Lörrach ihren Sohn und ihren Ex-Partner getötet, einen Unbeteiligten erstochen und auf Polizeibeamte geschossen.
Wie sind die Unterschiede zu erklären?
Im Bereich der häuslichen Gewalt sind Männer deutlich häufiger die Täter. Neuere Zahlen zeigen aber, dass sich bei jungen Paaren die Gewaltbereitschaft eher angleicht. Trotzdem ist das Ausmaß der Gewalt bei Männern deutlich massiver.
Wenn es vorher zu Auffälligkeiten kommt: Gibt es auch Warnsignale?
Die gibt es. Man muss aber die gesamte Persönlichkeit betrachten. Ist jemand sehr impulsiv? Hat er soziale Konflikte, und erlebt er seine eigene Situation als ausweglos? Hat er leichten Zugang zu Waffen? Das können Signale sein, die man ernst nehmen muss und ein entschiedenes Handeln erfordern. Es gibt mittlerweile Instrumente, auf die wir in solchen Situationen zurückgreifen können. Diese Aufgabe bleibt aber trotzdem sehr herausfordernd.