Frank-Jürgen Weise Foto: dpa

Bei Frank-Jürgen Weise, dem Chef der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesamtes für Migration, laufen alle Fäden in der Flüchtlingspolitik zusammen. Er fordert Deutschland auf, in der Integrationspolitik von anderen Ländern zu lernen.

Brüssel - Bei Frank-Jürgen Weise, dem Chef der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesamtes für Migration, laufen alle Fäden in der Flüchtlingspolitik zusammen. Er fordert Deutschland auf, in der Integrationspolitik von anderen Ländern zu lernen. Manche europäische Nachbarn seien deutlich schneller bei der Vermittlung in kleine Jobs. Er fordert alle Seiten zu unbürokratischen Lösungen bei Berufsabschlüssen und Qualifikationen auf. Werde peinlich genau auf jede Anforderung gepocht, gestalte sich die Integration umso schwieriger.

Herr Weise, welche Folgen hätte ein Austritt Englands aus der EU für den deutschen Arbeitsmarkt?
Der IWF hat einen möglichen Brexit ja gerade als erhebliche Bedrohung für die wirtschaftliche Stabilität Europas bewertet. Aber ich möchte trotzdem vor Panik warnen. Wir gehen davon aus, dass ein Brexit auf unserem Arbeitsmarkt nicht zu größeren Jobverlusten führen würde. Das Wirtschaftsleben ginge ja weiter, der Güteraustausch auch, wenn auch alles etwas beschwerlicher. Etwas anders sieht es in der Finanzbranche aus: Da ist nicht ausgemacht, wohin die Reise geht. Wenn große Arbeitgeber aus Frankfurt abwanderten und nach London gingen, würden Jobs vernichtet. Es könnte aber auch umgekehrt sein, dass Frankfurt profitieren würde, weil womöglich die Finanzindustrie noch stärker die Nähe der Europäischen Zentralbank sucht. Klar ist: Psychologisch wäre ein Austritt Englands fatal.
Viele erklären die EU-Skepsis der Briten damit, dass England nach der EU-Osterweiterung den Arbeitsmarkt schnell für die Beitrittsländer geöffnet hat. War die frühe Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Fehler?
Ob es politisch ein Fehler war? Vielleicht, dazu kenne ich die innenpolitische Lage in England nicht gut genug. Wirtschaftlich war es sicher kein Fehler. Der Ausgleich der Arbeitsmärkte im Binnenmarkt ist ja gewollt. Die Frage stellt sich so oder so, ob sich der Zuzug von etwa jungen Osteuropäer auf die Job-Chancen von ansässigen Langzeitarbeitslosen auswirkt. Ich bin jedenfalls froh, dass inzwischen europaweit die volle Freizügigkeit gegeben ist. Davon profitieren alle.
Dann war es ein Fehler, dass Deutschland die Freizügigkeit so lange heraus gezögert hat?
Ich wäre für eine frühere Öffnung des Arbeitsmarktes bei uns gewesen. In Deutschland gab es eine lebhafte Debatte zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften über diese Frage. Ich verstehe die zögerliche Position der Gewerkschaften auch. Bei den Menschen sollte nicht der Eindruck entstehen, dass Europa für noch mehr Konkurrenz um die Arbeitsplätze sorgt.
Sie sagen, dass Flüchtlinge kaum zur Linderung des Fachkräftemangels beitragen und auch die Probleme durch eine zunehmende Alterung der Gesellschaft wenig dämpfen. Umso wichtiger ist die Integration. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz als Chef der Agentur für Arbeit und des Bundesamtes für Asyl aus?
Es ist wichtig daran zu erinnern, dass das Asylrecht ein humanitäres Recht ist und kein nutzenorientiertes. Ich finde es schön, dass viele Menschen in Deutschland dies genauso sehen und nicht in erster Linie nach dem Nutzen fragen. Nun sind die Flüchtlinge da, da müssen wir jetzt möglichst gut damit umgehen. Unter dem Strich geht es bislang um etwa 670 000 Menschen, die in 2013, 2014 und 2015 gekommen sind und bleibeberechtigt sind. 70 Prozent davon sind erwerbsfähig, also rund 400 000 Menschen. Wir gehen davon aus, dass Ende des Jahres davon 130 000 Menschen in der Arbeitslosenstatistik auftauchen. Die anderen haben entweder Arbeit gefunden oder stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Fraglich ist, wie viele Menschen noch zusätzlich im Rahmen des Familiennachzugs kommen. Im Moment sagt nach unseren Erkenntnissen etwa die Hälfte der Menschen, sie wollten zurück, wenn es in ihrer Heimat wieder Sicherheit gibt. Die Erfahrung von anderen Ländern zeigt aber etwas anderes: Wenn sie erst einmal die Sprache gelernt haben und hier Kinder geboren sind, bleiben auch viele.
Welche Qualifikation bringen Flüchtlinge mit?
Ein sehr kleiner Prozentsatz ist richtig gut qualifiziert, verfügt über Bildungs- und Universitätsabschlüsse, kann Fremdsprachen. Sie werden kaum Probleme haben, ihren Weg ins Berufsleben zu finden. Allerdings: Voraussetzung ist der Erwerb der deutschen Sprache. Wir haben dann noch viele hochmotivierte Menschen, die keinen Abschluss, aber Berufserfahrung haben. Etliche haben in den Bürgerkriegswirren nicht einmal eine Schule besucht. Für sie wird es sicher sehr schwer. Jetzt muss Deutschland lernen, wie es mit diesen Menschen umgeht. Sind wir bereit, unsere hohen Qualifikationsanforderungen zu senken? Ein Auge zuzudrücken, um den Einstieg zu ermöglichen? Vielleicht kann der Betroffene den Abschluss im Job nachholen und nachreichen. Von Seiten der BA stellen wir die Rahmenbedingungen dafür ja zur Verfügung. Ich wäre schon dafür, die Anforderungen dort, wo es Sinn macht und möglich ist, zu senken. Wenn wir peinlich genau immer auf unseren Standards pochen, wird die Integration umso schwieriger. Unser großes Glück ist, dass die Konjunktur läuft, der Arbeitsmarkt in guter Verfassung ist und immer noch Beschäftigung aufgebaut wird. Das hilft.
In welchen Bereichen haben Flüchtlinge Chancen?
Landwirtschaft, Handwerk, kleines Gewerbe, Serviceleistungen. Wir müssen uns darauf einstellen: Die Integration in den Arbeitsmarkt wird länger dauern, und sie wird teurer als bei den Menschen, die schon länger bei uns sind. Ich werbe für schnelles Handeln: schnell Sprachkurse, schnell Beschäftigung, schnell Wohnformen, in denen Flüchtlinge Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung haben.
Wie erleben Sie die Arbeitgeber?
Ihr Engagement ist vorbildlich. Fast alle Dax-Unternehmen haben sich gemeldet. Allerdings: Es ist schwer, die Nachfrage aus den Unternehmen zu bedienen. Der Grund: Formalien, wie etwa Vorrangprüfung und Asylverfahren, dauern lange. Besonders aufnahmebereit ist das Handwerk. Wobei: Wenn ein einzelner Flüchtling in den Betrieb kommt, hat er es meist schwer. Wenn eine Gruppe kommt, geht es besser.
Und die Verwaltung?
Die Verwaltung war nicht gut vorbereitet. Es dauerte und dauert teilweise immer noch zu lange, bis Asylbewerber ihren Antrag stellen können. Bis zu acht Monate. Es ist zynisch, wenn da einige selbst in meiner Behörde, dem Bundesamt,von Turbo-Asylverfahren sprechen. Ich verspreche, dass wir da besser werden. Bis Ende des Jahres wird in aller Regel binnen drei Monaten entschieden, ob ein Flüchtling bleiben darf oder nicht. Schon heute sind wir schnell und effizient in der eigentlichen Entscheidungsphase. Die Entscheidung fällt binnen drei Tagen. Und in der Bundesagentur haben wir einen Vorteil: Wir haben Zeit, uns vorzubereiten auf die Herausforderungen. Es dauert ja noch ein wenig, bis die Menschen auf den Arbeitsmarkt und damit in die Jobcenter kommen.
Von den Kommunen kommt Kritik, sie pochen auf Mitsprache, sie werfen dem Bund Zentralisierungswahn bei den Asylverfahren vor . . .
Wer diese Kritik äußert, der irrt gewaltig. Es ist doch völlig klar, dass im Asylbereich die Verfahren zentral organisiert werden müssen. Alles andere geht gar nicht. Da bräche Chaos aus. Selbstverständlich ist aber auch, dass dann alles weitere in enger Zusammenarbeit mit den Kommunen geschieht. Die Kommunen sind gefordert, wenn es um Sprachkurse und Unterkunft geht, die Bundesebene ist gefordert, wenn es um die Anerkennung und Verteilung geht.
Kann Deutschland von anderen Ländern bei der Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt lernen?
Manche europäische Nachbarn sind deutlich schneller bei der Vermittlung in kleine Jobs. Sie fahren gut mit dem Prinzip, sofort Arbeit, sofort Sprachkurse. Bei uns wird mir zuweilen bei dem Thema Flüchtlinge zu sehr das Ideal des Facharbeiters hoch gehalten. Andere Länder sind auch schneller bei der Organisation der Asylverfahren.
Die EU hat kaum Kompetenzen im Bereich der Sozialpolitik, wollen Sie das ändern?
Nein, das widerspräche unserer Lebenswirklichkeit. Europa hat derzeit ohnehin einen schweren Stand. Auch in Deutschland, das zeigen die Wahlergebnisse der AfD. Wer wollte sich da angreifbar machen, indem man mehr Kompetenzen an Brüssel abgibt? Auf lange Sicht wäre eine Harmonisierung der Sozialsysteme sicher wünschenswert. Schon allein bei den schwierigen Regelungen, was Beiträge zur Rentenversicherung angeht, ist es ja überaus komplex, zu einem Arbeitgeber ins Nachbarland zu gehen.
Ein früherer EU-Kommissar wollte eine EU-Arbeitslosenversicherung einführen . . .
Die Idee ist im Prinzip gut, aber noch lange nicht reif für die Umsetzung. Darüber können wir vielleicht in 50 Jahren reden. Würde so etwas heute kommen, dann hieße dies: Deutsche Arbeitnehmer würden wegen der hohen Standards Arbeitnehmer aus Ländern mit niedrigeren sozialen Standards subventionieren. Das darf es so schnell nicht geben.
 
Das Gespräch führte Markus Grabitz.