Der Bezirksvorsteher kommt sehr gut ohne Auto zurecht. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Ein großes Thema waren im zurückliegenden Jahr die Flüchtlinge. Sie haben den Westen auf Trab gehalten, viele Bewohner haben sich engagiert. Doch es gibt auch Dauerbrenner wie das Wohnen im Westen und den Verkehr – ein Gespräch mit dem Bezirksvorsteher Reinhard Möhrle.

Eines der bestimmenden Themen des Stadtbezirks im zurückliegenden Jahr war die Ankunft der Flüchtlinge. Die Neulinge haben den Westen auf Trab gehalten, viele Bewohner haben sich engagiert. Doch es gibt auch thematische Dauerbrenner wie das Wohnen im Westen und den Verkehr – ein Gespräch mit dem Bezirksvorsteher Reinhard Möhrle.

Herr Möhrle, der Westen hat in diesem Jahr 750 Flüchtlinge aufgenommen. Wirkt sich das in einem Bezirk mit fast 52 000 Einwohnern spürbar aus?
Nein. Man bemerkt das fast nicht, und wir haben hier auch keine größeren Probleme. Allenfalls beklagt sich mal jemand, dass nachts irgendwo ein Licht brennen gelassen wurde oder mal der Müll nicht entsorgt wird. Unser größtes Problem war, dass die Sanitär- und Kochcontainer für die Unterkünfte so lange auf sich warten ließen.
Der Bezirk war in der Lage, die Neuankömmlinge problemlos einzugemeinden?
Ja, wir können diese Menschen in unser Gemeinwesen aufnehmen. Wir dürfen sie aber nicht nur unterbringen, wir müssen sie auch integrieren. Wir haben im Westen lange und gute Erfahrungen mit Menschen aus anderen Ländern. Von den ersten Gastarbeitern aus Italien und dem ehemaligen Jugoslawien sind damals viele in den Westen gekommen. Heute merkt man bloß noch an den Nachnamen, dass sie ursprünglich nicht von hier sind.
Was tut der Westen für die Integration der Flüchtlinge?
Vor allem der Freundeskreis mit seinen zahllosen Angeboten ist hier aktiv. Er hat fast so viele Mitglieder wie Flüchtlinge da sind. Als im Sommer die Flüchtlinge aus dem Olgäle ausziehen mussten, weil dort abgerissen wird, da hat mich der Freundeskreis gefragt: Kriegen wir wieder neue Flüchtlinge? Wir haben so viele Helfer, die sich kümmern wollen.
Sie meinen, man ist im Westen den Flüchtlingen gegenüber besonders aufgeschlossen?
Absolut. Wir sind ein sehr toleranter Bezirk, und es gibt eine riesige Bereitschaft, Menschen in schwieriger Lebenslage zu unterstützen. Das zu sehen, war für mich die positivste Erfahrung im zurückliegenden Jahr. Mein persönliches Highlight war die Weihnachtsfeier im Dillmann-Gymnasium für die Flüchtlinge. Wir hatten mit 100 Gästen gerechnet. Aber dann strömten die Leuten mit ihren Familien herein, wir mussten immer mehr Stühle und Tische von irgendwoher organisieren. Ich habe eine kleine Ansprache gehalten und ein syrischer Mann hat sie ins Arabische übersetzt. Anschließend kamen viele Flüchtlinge, um mir zu sagen, wie sehr sie es zu schätzen wissen, hier aufgenommen zu werden, und um sich zu bedanken für all die Hilfsbereitschaft hier.
Haben Sie nicht manchmal Angst, die Stimmung könnte kippen?
Natürlich mache ich mir Sorgen, ich sehe ja, dass anderswo extreme Gruppierungen Zulauf bekommen. Aber das hat unsere Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg noch immer verkraftet. Wir hatten ja sogar schon mal die NPD und die Republikaner im Landtag sitzen. Ich vertraue darauf, dass unsere Gesellschaft stabil genug ist, das zu verkraften. Im Westen sowieso.
Deutlich mehr Einfluss auf die Bevölkerungsstruktur als ein paar Hundert Flüchtlinge dürfte der Wohnungsmarkt nehmen. Können sich bald bloß noch Reiche leisten, in den Westen zu ziehen?
Bezahlbarer Wohnraum im Westen ist tatsächlich extrem knapp. Es ist noch immer einer der bevorzugtesten Gebiete in Stuttgart, und Bauträger wollen eine optimale Rendite erzielen. Die Stadt kann bloß dann größeren Einfluss nehmen, wenn ihr das Gelände gehört, auf dem gebaut wird – also beim Olgäle zum Beispiel, wo 50 Prozent der Wohnungen gefördert werden. Auch am Vogelsang, wo auf dem Gelände des städtische Eigenbetriebs SSB gebaut wird, werden 20 Prozent der Wohnungen gefördert – in Anlehnung an das Stuttgarter Innenentwicklungsmodell (SIM).
Das sind gerade mal acht Wohnungen am Vogelsang.
Stimmt. Das ist eben eine Frage des Geldes: Die Stadt muss für die Differenz zum freien Verkauf aufkommen. Das SIM-Programm ist auch ein politisches Steuerungsinstrument, das nicht sofort wirkt. Es greift erst bei einer Baurechtsänderung. Dann bekommt der Bauträger die Auflage,20 Prozent geförderten Wohnraum zu schaffen. Aber das sind langwierige Prozesse. Die Auswirkungen sind nicht von heute auf morgen sichtbar.
Sie kennen den Stadtbezirk von Kindesbeinen an. Beobachten sie vor dem Hintergrund sich verteuernden Wohnraums eine Veränderung der Bewohnerstruktur?
Die Gentrifizierung des Bezirks ist in der Tat eine Gefahr. Aber im Moment kann ich noch keine ungute Entwicklung feststellen. Ende des vergangenen Jahrhunderts lief der Trend ja genau in die andere Richtung: Der Stadtbezirk war nicht besonders attraktiv, die sozialen Spannungen nahmen zu. Ich bin froh, dass der Westen heute wieder bei jungen Familien gefragt ist. Ich denke, dass es völlig normal ist, dass sich die sozialen Strukturen verändern. Und im Westen verlaufen diese Entwicklungen auch nicht rasant, sondern langsam.
Im Bezirksbeirat ist das beherrschende Thema der Verkehr. Gibt es ein Projekt, das ihnen persönlich besonders am Herzen liegt?
Die Fußgängerförderung. 30 Prozent aller Verkehrsbewegungen im Westen gehen von Fußgängern aus. Dennoch haben sie bislang noch keine Lobby – anders als die Radfahrer, die sich sehr gut organisiert haben. Dabei machen Radfahrer nur sechs Prozent der Verkehrsbewegungen aus.
Was also ist Ihr politisches Ziel?
Wir müssen es hinkriegen, dass die Fußgängerförderung als wichtiger Aspekt fest in den Planungen verankert wird.
Warum soll man Fußgänger eigens fördern? Die Wege gibt es doch schon.
Aber je attraktiver wir die Wege gestalten, desto eher lassen die Leute mal das Auto stehen. Außerdem unterstützen wir damit die Einzelhändler. Die wissen Fußgänger oft nicht zu würdigen und halten einen Parkplatz vor dem Laden für das wichtigste. Diese Einschätzung ist falsch: Die meisten Kunden kommen zu Fuß. Laut einer Bundesstatistik kommen 52 Prozent der Kunden mit Öffentlichen, 34 Prozent zu Fuß und bloß zehn Prozent kommen mit dem Auto. Außerdem ist zu Fuß gehen gut für das soziale Klima.
Inwiefern?
Ich gehe gerne und viel zu Fuß, und Sie glauben gar nicht, wie viele Leute ich unterwegs treffe! Man kommt unterwegs mit so vielen Menschen ins Gespräch. Im Auto führe ich bloß an ihnen vorbei.