Jugendlicher vor Computer: In sozialen netzwerken kann man viel Zeit verbringen – manchmal zu viel Foto: dpa-Zentralbild

Ohne Internet geht es im Arbeitsleben nicht. Mit geht es manchmal aber auch nicht. Wenn die Online-Welt zur Sucht wird: Internetabhängigkeit ist eine wachsende Gefahr – auch für die Rentenkasse.

Stuttgart - Ganz lange macht es nicht klick: Eltern reden sich die Internetabhängigkeit schön. Sie wollen nicht wahrhaben, wenn die Sucht extreme Formen annimmt, wenn der Sohn oder die Tochter Pillen einwirft, um wach zu bleiben, 24 Stunden am Tag, mehrere Tage hintereinander. Eltern schämen sich, wenn Kinder ihre Hygiene vernachlässigen, vielleicht sogar die Ausbildung abbrechen oder den Job hinschmeißen.

Gleichwohl sind es oft die Angehörigen von Kindern oder jungen Erwachsenen, die Beratungsstellen aufsuchen oder zu Informationsabenden kommen. Wie eine Mutter, die bei einer Veranstaltung mit der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg ihr Elend schildert: Ihr 17-jähriger Sohn zappt nächtelang durchs Internet. Die Mutter heißt das nicht gut, und doch versorgt sie ihn mit Essen und Trinken – bringt sogar den „Nachttopf“ ins Zimmer, weil er sein Spiel nicht einmal dafür unterbrechen will. „Viele Eltern wissen, dass sie mit ihrem Verhalten die Internetabhängigkeit ihres Kindes unterstützen“, sagt Hubert Seiter, Chef der Rentenversicherung. „Sie tun das aber, weil sie ihr Kind gern haben und hilflos sind.“

Nicht jeder, der exzessiv im Internet surft oder exzessiv Online-Spielen nachgeht, wird gleich abhängig. Martin Beutel, Chefarzt für Suchtmedizin in den Kraichtal-Kliniken, hält es für verkehrt, jeden 16-Jährigen, der seine Zeit überwiegend mit Internetspielen verbringt, in die Therapie zu bringen. „Bei den meisten überwiegt nach einer gewissen Zeit dann doch das Interesse am echten Leben“, sagt der Mediziner.

Etwa 250 000 der 14- bis 24-Jährigen internetabhängig?

Doch mit der Verbreitung des Internets steigt die Zahl derjenigen, die krank werden. Etwa 250 000 der 14- bis 24-Jährigen in Deutschland gelten Studien zufolge als internetabhängig, rund 1,4 Millionen der jungen Erwachsenen werden als problematische Internetnutzer eingestuft. Die Dunkelziffer ist hoch. „Der nicht sinnvolle, unkontrollierte Umgang mit Medien wird zunehmend zu Exzessen führen“, warnt Seiter. „Da rollt eine Lawine auf uns zu.“

Was viele nicht wissen: Die Rentenversicherung hilft, wenn sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in die Abhängigkeit geraten. Sie bietet Suchtentwöhnung für Betroffene an, damit diese in der Ausbildung oder im Beruf gehalten werden können. Bei Reha denken viele an Hüft-OP oder Herzinfarkt, weiß Seiter. Doch die Rentenversicherung zahlt auch, wenn jemand von seiner Internetabhängigkeit loskommen möchte: Die Kosten liegen bei 10 000 Euro für eine stationäre Therapie.

Internetabhängigkeit ist eine Krankheit. Chefarzt Beutel zählt mehrere Punkte auf, die eine Sucht erkennen lassen: Wenn der größte Teil des Tageszeitbudgets für das Internet genutzt wird. Wenn Betroffene die Kontrolle über ihre Internetnutzung verlieren. Wenn sie immer mehr brauchen, um sich gut und entspannt zu fühlen, und das Verlangen nach Internetkonsum ständig da ist. Wenn sie unruhig, nervös und gereizt werden, sobald sie nicht im Internet sind und schließlich, wenn die Ausbildung oder die Arbeit vernachlässigt wird. „Leiden gehört zur Krankheit“, sagt Beutel. „Es ist wie beim Rauchen: man tut etwas, von dem man weiß, dass es einem schadet, aber man kann nicht davon lassen“, sagt der Mediziner.

Erste Anlaufstelle für viele Erwachsene ist in Stuttgart die Evangelische Gesellschaft (Eva). In die wöchentliche offene Sprechstunde oder zu einem persönlichen Gespräch kommen Angehörige, die Unterstützung brauchen, aber auch Betroffene, die ihre Spielzeiten reduzieren wollen oder weil ihnen das Jobcenter mit der Kürzung des Arbeitslosengelds droht. Dayena Wittlinger, Expertin bei Eva für Internetabhängigkeit, unterscheidet zwei Gruppen: Die einen spielen exzessiv Online-Spiele, die anderen schauen exzessiv amerikanische Serien im Internet. „Immer wieder stellt sich im Gespräch heraus, dass die Klienten exzessiv Online-Pornografie konsumieren“, sagt Wittlinger.

Fluchtweg vor den Problemen oder Anforderungen des echten Lebens

Für viele Betroffene ist das Internet ein Fluchtweg vor den Problemen oder Anforderungen des echten Lebens. Besonders anziehend sind Rollenspiele, sagt Beutel: Statt klein und dick zu sein und nicht turnen zu können, ist man in der Internetwelt ein toller Kämpfer, der über Häuser springt und andere besiegt. Die Forschung zeigt, dass Spielen oder Surfen im Internet ein Glücksgefühl im Gehirn auslöst. „Man weiß heute, dass bei Spielsucht dieselben Bereiche im Gehirn betroffen sind wie etwa bei Alkohol“, sagt Beutel. Doch es ist noch schwerer als beim Alkohol, auf den Suchtstoff zu verzichten. Denn zum Alltag der meisten Berufe gehört das Internet dazu. „Wenn es Ärger im Büro gibt, ist der Ort, wo es mich hinzieht und an dem es mir gut geht, nur ein, zwei Klicks entfernt“, beschreibt Beutel die Gefahr für die Betroffenen.

Wenn Arbeitgeber feststellen, dass bei einem Mitarbeiter etwas schiefläuft, reagieren sie heute eher verständnisvoll, so die Erfahrung des Mediziners. Es sei besser, sich in Therapie zu begeben, solange man noch einen Ausbildungsplatz oder einen Job habe. „Wir haben Vollbeschäftigung, und es ist nicht so einfach, Auszubildende zu finden“, erklärt Seiter den Sinneswandel.

Ratsam ist es, frühzeitig die Suchtberatung aufzusuchen. Der Ausstieg ist anstrengend: „Wer einmal abhängig war, hat ein erhöhtes Risiko für alle anderen Suchtformen“, sagt Beutel. Viele Eltern sehen es rückblickend als großen Fehler an, ihrem heranwachsenden Kind einen Laptop geschenkt zu haben. Grenzen zu setzen ist sinnvoll, sagt Beutel. Sein Tipp für Eltern mit gefährdeten Kindern: Einfach den Strom abschalten.