Psychologin Pamela Grassl hört Pädophilen zu. Eine Internetplattform des Stuttgarter Bewährungshilfevereins soll Betroffenen helfen und potenzielle Missbrauchsopfer präventiv schützen. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Wer pädophil veranlagt ist, darf auf wenig Verständnis vonseiten der Gesellschaft hoffen – selbst, wenn er nie übergriffig wird. Eine Internetplattform des Stuttgarter Bewährungshilfevereins soll Betroffenen helfen und potenzielle Missbrauchsopfer präventiv schützen.

Stuttgart - Ein Prozent aller Männer, wird in Studien geschätzt, tragen ein dunkles Geheimnis in sich. Oder exakter: Sie haben es auf ihrer Festplatte. Auch wenn sie sonst häufig ein ganz normales Leben führen, fühlt sich dieser Bruchteil der Männer durch Fotos von Kindern aus dem Internet angesprochen – mal in mehr, mal in weniger pornografischen Darstellungen.

Kaum einer spricht über seine als pathologisch eingestuften Neigungen. Eine Internetplattform des Stuttgarter Bewährungshilfevereins sucht den Dialog mit jenen Männern, die das Verbotene begehren. Das Projekt wurde bei einer Fachtagung zum Thema Pädophilie im Rathaus vorgestellt.

„Menschen mit pädophiler sexueller Orientierung sprechen meist mit niemandem über ihre geheimen Wünsche“, sagt Pamela Grassl, Psychotherapeutin und Initiatorin des Präventionsprojekts „Leg los“.

Viele würden Pädophile am liebsten tot sehen

Laut einer Studie der Technischen Universität Dresden aus dem Jahr 2013 würden 26 Prozent der Befragten aus der Bevölkerung Pädophile am liebsten tot sehen. Die Psychologin dagegen will helfen: „Mit unserer Internetplattform wollen wir ihnen eine Anlaufstelle sein und sowohl durch Therapie Hilfe leisten als auch Kinder präventiv vor Missbrauch schützen.“

Der digitale Beichtstuhl, die Webseite „Leg los“, soll Konsumenten von Kinderpornografie dort abholen, wo sie ihre Befriedigung suchen und erhalten: im Internet. Außerdem funktioniert die Plattform vollkommen anonym.

Nutzer können sich voraussichtlich ab Oktober unter Pseudonymen anmelden und erhalten – ohne weitere Angaben machen zu müssen – ein Passwort. Ein Selbsttest liefert eine Erstdiagnose über den Schweregrad der Veranlagung, danach beginnt die Therapie.

Nur 0,1 Prozent der Pädophilen konsumieren ausschließlich Kinderpornografie

„Aktuelle Studien legen nahe, dass die meisten Menschen, die Kinderpornografie konsumieren, auch andere Art von Pornografie erregend finden. Für sie stehen die Chancen gut, ein erfülltes Sexualleben in einem legalen Rahmen führen zu können“, sagt Grassl.

Nur bei geschätzten 0,1 Prozent der Personen mit pädophiler Neigung seien Kinder eine so dominante Sexualpräferenz, dass das Ausweichen auf rechtlich unbedenklich geltende Sexszenarien unmöglich scheint. Ihnen bleibt nur der komplette Verzicht, wenn sie straffrei leben wollen.

Auch wenn sogenannte Posing-Bilder in der Affäre um den Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy (SPD) in den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eine Rolle spielten, ist der Besitz dieser Nacktfotos wie auch von härterem pornografisches Material kein Kapitalverbrechen.

Diese Rechtslage ermöglicht es Grassl, mit Pädophilen arbeiten zu könnten. „Nur wenn wir den Verdacht auf ein laufendes Gerichtsverfahren haben, verweigern wir die Hilfe. Sonst unterliegen wir der therapeutischen Schweigepflicht“, sagt Grassl. „Leg los“ soll nicht dazu dienen, in Strafprozessen missbraucht zu werden – etwa um dem Gericht Reue vorzugaukeln.

Zahl der sexuellen Übergriffe geht zurück

Die Justiz hat mit Übergriffen von Sexualstraftätern immer weniger zu tun, auch die Zahl der Fälle von Kindesmissbrauch ist konsequent rückläufig. Woran das liegt, ist nicht abschließend untersucht.

„Das Strafmaß immer weiter zu verschärfen, sobald ein Fall öffentliches Aufsehen erregt wie zuletzt die Edathy-Affäre, bringt gar nichts“, sagte Bundesrichter Thomas Fischer auf der Fachtagung im Rathaus, „oder überlegt sich ein Straftäter: Wenn ich für meine Tat zehn Jahre kriege, mach ich’s, aber bei zwölf, dann lieber nicht?“

„Man sollte Pädophile nicht vorverurteilen"

Auch Grassl sieht dafür keine Notwendigkeit und schließt sich Fischer an: „Man sollte Pädophile nicht vorverurteilen. Denn die meisten sexuellen Übergriffe auf Kinder werden von Personen verübt, die primär überhaupt nicht sexuell an Kindern interessiert sind.“ Das mag überraschen. Dennoch die meisten Experten der Fachtagung davon überzeugt.

Doch inwiefern kann eine Plattform dann Kinder auch wirklich vor Missbrauch schützen, wenn die Haupttätergruppe – Männer mit anderen psychischen Problemen – gar nicht angesprochen wird?

„Wir betreuen bei der Ambulanz für Sexual- und Gewaltstraftäter derzeit 71 verurteilte Männer, die sich an Kindern vergangen haben. Bei den meisten waren psychische Probleme abseits von Pädophilie für die Taten ausschlaggebend“, sagt Grassl. Sie hofft, dass sich auch Männer auf der Plattform melden, deren Hang zu sexueller Gewalt nichts mit pädophiler Veranlagung zu tun hat.

Das Projekt „Leg los“ wird zunächst nur in Baden-Württemberg beworben. Sollte der Andrang entsprechend groß sein, könnte die Idee allerdings Schule machen. Anonyme Beratungsportale gibt es im Internet einige – jedoch noch nicht für Pädophile. Grassl und ihr Team, so schätzt sie, könnten etwa 100 Betroffene therapeutisch versorgen. Das wäre zumindest ein Anfang, um Menschen mit dunklen Geheimnissen Ansprechpartner zu bieten.