Auch in der Region Stuttgart versuchen viele stationäre Händler, die Kunden zum Einkauf in ihre aufgerüsteten Internetläden zu bewegen. Denn online sind die Wachstumsraten am größten. Foto: dpa

Immer mehr Händler verzahnen ihr stationäres Geschäft eng mit ihrer Online-Filiale. Nur so können sie den neuen Kaufgewohnheiten der Kunden folgen und reinen Online-Händlern Paroli bieten. Für die Verbraucher bedeutet das ein Überall-Shopping mit besserer Beratung.

Stuttgart - Vor zwölf Jahren hat der Stuttgarter Geschäftsmann Mattias Mußler seinen ersten Internetladen eröffnet – doch erst der dritte Versuch war ein Volltreffer. Mußler hat sich in der Online-Welt auf Männerkosmetik spezialisiert. „Bei den Herren besetzen wir eine lukrative Nische. Außerdem können wir unser Internetgeschäft noch enger mit den stationären Läden in Stuttgart verbinden.“

Geh richtig online – oder lass es sein: Diese Parole gilt derzeit für die Unternehmer der Region. Geschätzt sechs bis 6,5 Milliarden Euro betrug der Online-Umsatz im baden-württembergischen Einzelhandel im vergangenen Jahr, 29,5 Milliarden Euro waren es bundesweit. Damit stieg der Umsatz im Südwesten um zwölf Prozent. Bei einem Gesamtumsatz von 89,5 Milliarden Euro im Südwesten und prognostiziert 427,7 Milliarden Euro bundesweit scheint das nicht viel. Doch dieses Jahr rechnet der Handelsverband mit Steigerungen im Online-Geschäft von bis zu 13 Prozent. Wer da nicht dabei ist, verliert Umsatz – denn die Gesamteinnahmen stagnieren. „Die Händler müssen online viel investieren, um konkurrenzfähig zu bleiben“, sagt der Stuttgarter Citymanager Hans H. Pfeifer. „Für die kleinen Geschäfte wird es schwierig.“

Denn schon für ein mittelgroßes Unternehmen wie Mußler Beauty mit seinen sechs stationären Filialen ist der Spagat zwischen Internet- und Ladenverkauf ein Kraftakt: „Ein Online-Shop hat völlig eigene Anforderungen. Das erfordert ebenso viel Aufwand wie ein stationäres Geschäft“, betont Mußler. Man müsse das technische Know-how aufbauen, außerdem spiele die Werbung für den Verkauf eine größere Rolle. „Dazu müssen sie jederzeit eine riesige Auswahl innerhalb eines Tages liefern können. Mal schnell eine Internetseite einzurichten reicht einfach nicht.“

„Online und offline verschmelzen. Sie müssen dort präsent sein, wo die Kunden etwas einkaufen wollen“

Die großen Filialisten sind deshalb bei der Online-Expansion im Vorteil. „Sie haben mehr Mitarbeiter und Know-how, den Online-Handel zu betreiben“, betont Citymanager Pfeifer. In der Stuttgarter Königstraße gehören rund acht von zehn Geschäften in diese Kategorie, auch das Modehaus C & A ist darunter. Dort treibt man die Verzahnung von Online- und Ladengeschäft stark voran. „Online und offline verschmelzen. Sie müssen dort präsent sein, wo die Kunden etwas einkaufen wollen. Egal, ob sie spätabends im Internet oder in der Mittagspause in der Innenstadt shoppen gehen“, sagt Ralf Rothberger, Leiter des elektronischen Handels. Um die Kunden nicht zu irritieren oder sich selbst Konkurrenz zu machen, biete man auf beiden Kanälen die gleichen Preise an. Um 40 Prozent sei der Online-Umsatz im vergangenen Geschäftsjahr gestiegen. Dass das Online-Geschäft damit das eigene Ladengeschäft kannibalisiere, stimme nicht. „Wer beide Kanäle anbietet, der wächst auch schneller“, betont Rothberger. Das bestätigen auch andere Branchenexperten: Händler, die das sogenannte Multichannel nutzten, erhielten nicht nur mehr Daten über ihre Kunden. Diese kauften im Durchschnitt auch mehr ein.

Doch die Online-Offensive der Händler verändert auch das eigene stationäre Geschäft. Dort konzentrierten sie sich noch stärker auf individuelle Beratung und das Einkaufserlebnis, betont Marco Atzberger vom Kölner Handelsinstitut EHI. „Die Läden bieten künftig weniger Ware an. Dafür werden die Marken immer stärker inszeniert.“ Atzberger spricht von einem neuen architektonischen „Raumerlebnis“: Modeketten wie Hollister bieten einen aufwendigen Eingangsbereich, der Ladenboden wird hochwertiger, die Präsentation in den Regalen aufwendiger, wie man es in den kultigen Apple-Stores erleben kann. Das Kalkül ist, die Kunden dabei auch online enger an sich zu binden, erklärt Atzberger: Der Verbraucher wird im Laden beraten – und kann das Kleid in der Lieblingsfarbe oder die schwere Truhe in Ruhe online bestellen und sich liefern lassen. Oder er bestellt das neue Küchengerät im Internet und holt es im Laden ab, um es sich persönlich erklären zu lassen. „Das alles bietet ein reiner Online-Händler nicht.“

Vor Ort wird der Einkauf zum Erlebnis gemacht

Für die Kunden sind das goldene Zeiten – der Handel buhlt um sie wie vielleicht nie zuvor. Sie müssen sich kaum noch Gedanken machen, ob sie die Ware sich im Internet oder vor Ort ansehen oder kaufen wollen. Und vor Ort wird der Einkauf zum Erlebnis gemacht – vor allem in den kleineren Geschäften. Denn diese können sich die Investitionen in den Online-Handel meist nicht leisten und versuchen das durch Exklusivität und Nähe zu kompensieren, sagt Sabine Hagmann vom Handelsverband Baden-Württemberg. Hagmann beobachtet sogar eine Rückkehr zum Tante-Emma-Laden-Prinzip: „Die kleinen Händler lernen die Namen und Gewohnheiten ihrer Kunden immer besser kennen.“ Pfiffige Boutiquen-Inhaber der Region schrieben ihre Kunden besonders häufig an: Die neue Kollektion sei eingetroffen, sie würde gut zur Kundengarderobe passen. Ob man zu einer kleinen Modenschau mit Häppchen laden dürfe? „Dazu gibt es die Geburtstagsglückwünsche und den persönlichen Termin auch nach Ladenschluss.“

Vor allem die großen Handelsketten und besonders pfiffige Unternehmer machen in puncto Auswahl, Informationen und schneller Lieferung im Internet Amazon und Zalando Konkurrenz; doch deren günstigen Preise erreichen sie oft nicht. Außerdem sind Millionen von Internetnutzern es bereits gewohnt, erst Amazon oder Zalando anzusteuern, wenn sie im Netz einkaufen gehen. Auch Mattias Mußler kennt das Problem: Mit der Herrenkosmetik hat er im Internet eine Nische gefunden hat – doch die Damendüfte verkaufen sich weniger gut. „Für Frauenkosmetik gibt es zu viele Anbieter. Da sind nur drei bis vier Shops bekannt und machen das Geschäft“, sagt er.

Dessen ist sich auch Branchenexperte Atzberger bewusst. Und dennoch glaubt er, dass der Kampf zwischen reinen Online-Händlern und den neu aufgestellten stationären Händlern um Marktanteile erst noch ausgefochten wird: „Der stationäre Handel ist aufgewacht. Der Markt wird gerade neu aufgeteilt – in allen Branchen.“