Ideale Verbindung: In der Industrie will man die Kraft und Ausdauer der Roboter nutzen, aber unter der Federführung des Menschen. Foto: dpa

Wenn Maschinen viel Arbeit übernehmen, leidet die Kreativität der Mitarbeiter.

Stuttgart - Wie viele Arbeitsplätze gehen durch Industrie 4.0 verloren? Eine im Januar 2016 veröffentlichte Studie des Weltwirtschaftsforums in Davos prognostizierte im Zuge der „vierten industriellen Revolution“ den Abbau von etwa fünf Millionen Jobs in den 15 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern bis Ende 2020. Doch viele Experten sehen diesen Trend nicht bestätigt – im Gegenteil.

In der Praxis zeigt sich in vielen Bereichen der Industrie ein Umdenken. Bei den Autobauern Toyota und Daimler wird die Automatisierung heruntergefahren und der Mensch steht wieder im Zentrum des Arbeitsprozesses. Die Gründe: Vor allem fehlen den Firmen Kreativität und Innovationskraft, die aus menschlicher Arbeit hervorgehen. Zudem müssen viele produzierende Unternehmen oft schnell und flexibel auf Trends und Kundenwünsche reagieren. „Die Zukunft unserer Produktion liegt in der intelligenten Vernetzung von Mensch, Maschine und industriellen Prozessen. Wir haben erkannt, dass die Vollautomatisierung an ihre Grenzen stößt“, sagt Markus Schäfer, der die weltweite Produktion und Logistik bei Mercedes-Benz Cars verantwortet. Und er ergänzt: „Deshalb fahren wir den Automatisierungsgrad zurück, gewinnen an Flexibilität und können somit die Wünsche unserer Kunden noch individueller umsetzen.“

Menschen statt Roboter?

Sollen also plötzlich wieder Menschen Roboter ersetzen? Natürlich setzt auch Daimler weiterhin auf die Kraft und Ausdauer der Roboter, aber unter der Federführung des Menschen. „So lässt sich die kognitive Überlegenheit und Flexibilität des Menschen optimal mit der Kraft und Ausdauer der Roboter verbinden“, sagt Schäfer.

Bei Toyota in Japan ist dieser Prozess bereits im Gange. So erklärte 2014 der technische Direktor Mitsuru Kawai in einer Rede vor Angestellten von Toyota, dass der Konzern dabei ist, 100 Arbeitsbereiche zu schaffen, in denen Roboter durch Menschen ersetzt werden. Wie ist so etwas im technikverliebten Japan möglich? „Wir müssen solider werden und uns auf die Ursprünge besinnen, wir müssen unsere manuellen Fähigkeiten verbessern und weiterentwickeln und uns dabei nicht von Maschinen abhängig machen“, sagt Mitsuru Kawai und erzählt aus seiner Lehrlingszeit, in der erfahrene Meister „Götter“ genannt wurden.

Comeback der „Götter“

Diese „Götter“ erleben derzeit bei Toyota ein Comeback, denn langfristig führt die Erledigung der Arbeit durch Roboter zu einem Verlust von Handwerkern und Meistern, die den Produktionsprozess verstehen. Der Hintergrund ist eine einfache Wahrheit: Menschen sind kreativ und schaffen Innovationen, Maschinen nicht. Die Führung des japanischen Konzerns hatte erkannt, dass zu früheren Zeiten viele Innovationen aus der Arbeiterschaft kamen. Mit den menschenleeren Roboterfabriken versiegte diese wichtige Quelle der Produktentwicklung weitgehend.

Nicht nur beim Maschinen- und Autobau sagen Studien einen Abbau von Stellen voraus. Kassierer, Krankenpfleger, Taxifahrer, Packarbeiter, Finanzanalysten, Steuerberater, Ärzte – die Liste der durch Maschinen und Roboter ersetzbaren Jobs ist lang. „In vielen Bereichen wie etwa in der Medizin oder in Supermärkten wäre heute schon deutlich mehr Automatisierung möglich“, sagt Uli Meyer von der TU München. Der Soziologe, der sich am Münchner Zentrum für Technologie mit Dynamik und Ethik in der Industrie 4.0 beschäftigt, schildert die Folgen so: „Allerdings wird diese Automatisierung schlicht nicht akzeptiert. Viele Menschen wollen einen Arzt aus Fleisch und Blut und keine Maschine, selbst wenn diese ähnlich gute Diagnosen stellen würde.“

Irreführende Horrorszenarien

Meyer hält den derzeitigen Ansatz, der sich fast ausschließlich damit beschäftigt, welche und wie viele Jobs theoretisch wegfallen könnten, für zu kurz gegriffen: „Vielmehr sollte man in Diskussionen herausfinden, was gesellschaftlich gewollt ist. Dazu bedarf es neben technischer Kompetenz auch sozialwissenschaftlicher Expertise und politischen Steuerungswillens.“

Sabine Pfeiffer ist Professorin für Soziologie an der Universität Hohenheim. Sie forscht seit 1990 am Wandel der Arbeit durch Technik und Automatisierung. Und sie hält Horrorszenarien im Hinblick auf die Folgen der Digitalisierung für irreführend. „Alle Einschätzungen zu den Beschäftigungseffekten infolge der Digitalisierung nehmen ihren Ausgang in einer Unterscheidung von Routine- und Nichtroutine-Tätigkeiten, wobei Routine als technisch ersetzbar gilt und Nicht-Routine als (noch) nicht“, sagt Sabine Pfeiffer. „Nun ist es aber so, dass die meisten als Routinearbeit eingestuften Tätigkeiten überhaupt keine Routinearbeiten sind“, weiß die gelernte Werkzeugmacherin. So untersuchte sie in hoch technisierten Betrieben wie in einem Nutzfahrzeugwerk von Volkswagen oder dem Maschinenbau-Unternehmen DMG Mori Seiki, was für Anforderungen an die Arbeitnehmer gestellt werden und wie sich deren Arbeit auf den Erfolg eines Unternehmens auswirkt.

Innovationsfähigkeit bedroht?

Ein Beispiel aus der Praxis zeigt, wie wenig industrielle Produktionsarbeit in Deutschland im Jahr 2016 mit leicht ersetzbarer Routinearbeit zu tun hat: Ein Facharbeiter überwacht acht in einer Prozessabfolge untereinander kooperierende Produktionsroboter innerhalb einer eng getakteten Serienfertigung. Kommt es zu Störungen oder Stillständen, behebt der Arbeiter diese entweder selbst oder ruft die entsprechenden Spezialisten hinzu.

Während einer ohne jegliche Störung verlaufenden Schicht greift er 20- bis 30-mal an ganz unterschiedlichen Stellen in den Prozess ein, um sich anbahnende Störungen bereits präventiv zu vermeiden. Dafür muss er eine Vielzahl unterschiedlicher technischer Zusammenhänge verstehen – von den Produktmaterialien über Verschleißprozesse bis zur Robotersteuerung. „Die Tätigkeit dieser Facharbeiter ist viel anspruchsvoller und komplexer, als immer unterstellt wird“, sagt Pfeiffer. „Würden diese Fachkräfte ersetzt, wäre das sicherlich das Ende der Innovationsfähigkeit der deutschen Industrie, deren entscheidender Wettbewerbsvorteil ja gerade die gute duale Ausbildung ihrer Arbeitnehmer ist.“

Dass die Arbeitswelt immer wieder vor großen Umwälzungen steht, ist nichts Neues. Bisher brachte allerdings jede Stufe der Automatisierung neue Jobs auf einer höheren Entwicklungsstufe hervor. Diese Beschäftigungsmöglichkeiten waren zudem meist interessanter und weniger gesundheitsschädlich als die alten Berufe. Man darf gespannt sein, welche neuen Jobs uns Industrie 4.0 und Robotisierung bescheren.

Mehr als Technik: Industrie 4.0

Flexibilität
Detlef Zühlke vom Deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz ist einer der Pioniere der Industrie 4.0. Für ihn muss der Mensch immer in komplexe Produktionsabläufe involviert sein, denn automatisierte Prozesse basieren auf Regeln und diese auf erwartetem Verhalten. „Unvorhersehbare Prozesse können von Maschinen nicht beurteilt werden. Genau die passieren aber, und dann muss der Mensch mit seiner Flexibilität und seinem Wissen eingreifen. Passiert das nicht, kann es verheerende Folgen haben“, sagt Zühlke.

Verantwortung
Autonome Autos, humanoide Roboter oder miteinander kommunizierende Fertigungsroboter: Wer ist verantwortlich, wenn diese intelligenten, selbst lernenden Maschinen eigenständig eine Fehlentscheidung getroffen und einen Unfall verursacht haben? Damit beschäftigt sich der Würzburger Jurist und Rechtsphilosoph Eric Hilgendorf:„Maschinen können natürlich nur schwer zur Verantwortung gezogen werden. Es gibt aber Modelle, die Maschinen als sogenannte E-Personen definieren, juristisch wäre das möglich. Man müsste der Maschine ein Vermögen zuordnen. So könnte sie selbst in Haftung genommen werden.“ Die Grundidee dabei ist, dass Maschinen vom Hersteller mit einem Vermögen ausgestattet oder mit einer Pflichtversicherung versichert werden, etwa wie bei der Kfz- Haftpflichtversicherung.

Sicherheit
Beim Sicherheitsaspekt geht es auch um die erhöhte Verletzlichkeit durch Cyberangriffe. Theoretisch könnten bald sämtliche Produktionsdetails in Cloudsystemen abgelegt werden – und die benötigen das Internet. Es bereitet aber Unbehagen, wenn sensible Betriebsgeheimnisse, die relevant für die Wettbewerbsfähigkeit sind, auf irgendwelchen Servern in den USA landen. Kritische Experten sprechen bereits von Industriespionage 4.0