"Stuttgart - Eine Stadt verändert ihr Gesicht" - Der Bildband mit Texten von StN-Redakteur Uwe Bogen ist Ende Oktober im Sutton-Verlag erschienen. Die Freitreppe am Kleinen Schlossplatz ist 1993 gebaut worden. Foto: Landesmedienzentrum Baden-Württemberg

Die Stadt ist Spiegel der Welt, ist ein Kosmos, ist eine Werkstatt, ist ein Labor, ist ein aufgeschlagenes Lesebuch. Dazu aber müssen die Straßen etwas erzählen können und die Menschen bereit sein zuzuhören. Augenblicklich scheint es eher, als wolle man die Geschichte nicht mehr hören – zumindest in Stuttgart.

Stuttgart - Die Stadt ist  Spiegel der Welt, ist ein Kosmos, ist  eine Werkstatt, ist ein   Labor, ist ein aufgeschlagenes Lesebuch. Dazu aber müssen die Straßen etwas erzählen können und die Menschen bereit sein zuzuhören. Augenblicklich scheint es eher, als wolle man die Geschichte nicht mehr hören – zumindest in Stuttgart.

Die Ausgangslage

Eine Stadt als funktionierendes Gefüge braucht beides – die Erzähl- und die Empfangsfähigkeit. Früher hieß es „Stadtluft macht frei“. Von dieser Freiheit machten wir uns frei. Eine dominierende, abgehobene Wirtschaftswelt hat von uns und unseren Städten Besitz ergriffen. Die Welt, die Städte, ihre Straßen sprechen nicht mehr. Quartiere, „Blöcke“, Fassaden, wurden und werden charakterlos, verwechselbar, ortloses Nebeneinander. Die Stadt als qualifiziertes Lesebuch droht verloren zu gehen. Darauf hat unsere Zeitung häufig hingewiesen, in der Hoffnung, diesen Prozess, diesen „Fortschritt“ aufhalten zu können, mindestens in unserer Stadt. Jedoch – der Abriss-Furor, eine typische Stuttgarter Krankheit, grassiert wieder.

Verlorene Gebäude

Buchstaben und Worte des Lesebuchs Stadt, häufig unter Denkmalschutz stehende Gebäude, Objekte, Gärten und Parks sind verloren. Nur zu gerne verweist man auf sieben Objekte im Zuge des Verkehrs- und Städtebauprojektes Stuttgart 21. Zu nennen sind aber doch auch und gerade mehrere Objekte an der Willy-Brandt-Straße, an der Hermannstraße, an der Firnhaberstraße, zudem das Industriedenkmal Gaskessel.

Andere stadtprägende, stadtgeschichtlich bedeutsame Bauten wurden bis zum Gehtnichtmehr misshandelt, „bereinigt“ – zum Beispiel das Gebäude Ecke Sophien-/Tübinger Straße, die Eberhardstraße 65.

Die Liste wird länger

Andere vertraute Bauten sollen in nächster Zeit beseitigt werden, zum Beispiel, die Wohnanlage Wagenburgstraße 149–153 des Architekten Karl Beer, die Arbeiterwohnbauten in der Möhringer Straße 25 a–39 a aus den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts des Architekten Wilhelm Pfäfflin. Historisch bekannt ist der Ort als Kohldampfgässle. „Kohldampf haben“ hieß „Hunger haben“. In diesen Gebäuden wohnten und wohnen überwiegend noch Personen der unteren sozialen Schichten. Die Gebäude haben hohe Alltagsqualität. Dann die frühere Brauereigaststätte in der Böblinger Straße 120, das alte Heslacher Pfarrhaus Böblinger Straße 110. Zudem: Über die vernachlässigte Calwer Passage wird verhandelt. Die Villa Berg verkommt weiter, ein herausragendes Beispiel der Neorenaissance des Architekten Christian Friedrich Leins, Architekt des Königsbaus. Im Frühjahr soll die evangelisch-methodistische Auferstehungskirche an der Sophienstraße abgerissen werden. Ein Gebäude, nicht unter offiziellem Denkmalschutz, jedoch ein städtebaulich, bauhistorisch, zeitgeschichtlich bedeutsames Objekt. Die Auferstehungskirche ist ein stadt-, quartiers- und straßenprägendes Zeugnis erster Ordnung des qualifizierten Alltags. Die Denkmalpflege hält es trotzdem für „nicht schutzwürdig“.

Der Denkmalschutz

„Kulturdenkmale im Sinne des Denkmalschutzgesetzes sind Sachen, Sachgesamtheiten und Teile von Sachen, an deren Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht“, heißt es in Paragraf 2 des Denkmalschutzgesetzes. Was aber wäre eine zeitgemäße Umsetzung dieser Bedingungen? Im Ergebnis erleben wir: Die unscharfen Definitionen und die daraus abgeleiteten und exekutierten Entscheidungen über Erhalt oder Abriss eines Gebäudes weisen nicht mehr über die eigene Gegenwart hinaus, sie werden banal, blass, be- und deutungslos, ohne Erinnerung, ohne Gedächtnis, nur noch Spiegel ihrer selbst.

Die Falle Authentizität

Die Denkmalpflege argumentiert häufig mit den Begriffen „Authentizität“ und „Originalität“. Über den Begriff Authentizität wird seit dem 19. Jahrhundert diskutiert. Ob nämlich nur der Originalzustand oder auch die Spuren des Umgangs der Zeiten mit dem jeweiligen Gebäude Teil der Authenzitität sind. Die Wissenschaften sind sich inzwischen einig, dass Spuren, Eingriffe und ihre sichtbaren Folgen der Geschichte ebenso wertvolle, manchmal wertvollere Elemente von Authentizität darstellen als originale Bestandteile. Zu Recht diskutiert man gegenwärtig verstärkt über den Wert des qualifizierten Alltags. In der internationalen Charta des Denkmalschutzes von Venedig und Lausanne 1989 wird dieser ausdrücklich betont: „Der Denkmalbegriff versteht sich nicht nur auf große künstlerische Schöpfungen, sondern auch auf bescheidene Werke, die im Laufe der Zeit eine kulturelle Bedeutung bekommen haben. Die Beiträge aller Epochen müssen respektiert werden: Denkmäler sind vergänglich. Gegenstand ist immer nur das bestehende Objekt in seinem gegenwärtigen Bestand.“

Vielfalt prägt

Eine Stadt, deren Charakter, deren Persönlichkeit, Atmosphäre und Bedeutung bestehen nicht nur aus „Kulturdenkmalen nach Denkmalschutzgesetz“, sondern auch und vor allem aus stadttypischen und -prägenden Objekten. Aus Räumen, die nicht der gängigen Definition des Gesetzes entsprechen, an deren Erhalt und Schutz jedoch größtes Interesse bestehen müsste – aus kultur-, zeit-, stadt- und ortsgeschichtlichen Gründen. Der qualifizierte Alltag prägt die Städte – also auch Stuttgart –, nicht die definitionsgerechten, die spektakulären Objekte, die „Leuchttürme“ wie das Alte Schloss oder das Neue Schloss.

Der Verlust

Heute werden in vielen Städten – Stuttgart rangiert mit an der Spitze – je Generation bis zu 50 Prozent der bestehenden Bebauung ausgewechselt. Die Auseinandersetzungen zwischen quantitativen, wirtschaftlichen Interessen und qualitativen Werten werden fast immer zuungunsten der Letzteren entschieden. Wie zuletzt auch im Quartier Gerber, dort wurden für ein weiteres Einkaufszentrum viele Seiten des Stadt-Lesebuches ausgerissen. Mit dem Verlust der Orte des qualifizierten Alltags gehen der Charakter, das emotionale Stadterlebnis, geht die Stadt als Lesebuch verloren. Die Menschen wohnen in einer Welt, aber sie sind nicht in ihr zu Hause.

Die Möglichkeiten

Die Städte und wir als Bürger haben durchaus konkrete Mittel, unsere Ziele zu erreichen. die Themen heißen Planungshoheit, Bebauungspläne oder Vorkaufsrecht. Und es geht darum, die Positionen eben auch einmal umzudrehen: Ja, gelegentlich muss die Stadt als öffentliche Hand in die Bresche springen. Und: Ja, gerade für das Bewahren des qualifizierten Alltags müssen auch finanzstarke Partner gewonnen werden. In der Folge gilt es, gerade auch die Architekten zu sensibilisieren. Die stärkste Kraft aber ist unsere eigene (Stadt-)Vorstellung, unser (Stadt-)Wollen: Aus unserem Lebensgefühl heraus, aus dem Verlangen nach einem emotionalen Stadterlebnis könnten neue städtische Träume und neue städtische Räume entstehen.