Ein „Piks“, der Schlimmeres verhindern soll. Doch nicht alle Eltern sind überzeugt, dass das Impfen ihren Kindern zuträglich ist. Das zeigt eine Untersuchung der Stadt. Foto: dpa

Ob man seine Kinder impfen lässt oder nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Insbesondere in gehobenen Stadtteilen von Stuttgart liegen die Impfraten teils weit unten den von der WHO empfohlenen Werten.

Stuttgart - Die Kinder impfen lassen – oder doch nicht? Diese Frage beantworten Eltern heute längst nicht mehr selbstverständlich mit „ja“. Eine Untersuchung der Stadt zeigt: Viele Familien in Stuttgart halten den Impfschutz etwa gegen Masern nicht für zwingend, gerade auch jene in gehobenen Wohngebieten. Deshalb denkt das Gesundheitsamt darüber nach, wie Impflücken geschlossen werden können. Das seit Januar geltende Infektionsschutzgesetz sieht das so vor.

Masern, Mumps, Röteln, Windpocken, Diphterie, Tetanus, Keuchhusten, Kinderlähmung, um nur einige zu nennen – die Liste der Krankheiten, gegen welche das Berliner Robert-Koch-Institut eine Impfung empfiehlt, ist lang. Der Grund aus Sicht der Schulmedizin: Gemessen an den möglichen Folgen, die diese Erkrankungen bei Kinder und bei Erwachsenen haben können, seien die „Pikser“, mit denen die Impfstoffe meist im Paket injiziert werden, harmlos.

Masern sind gefährlicher als man meint

Paradebeispiel sind die Masern. Die hochansteckende Krankheit, die zu roten Flecken auf der Haut führt, schwächt das Immunsystem und zieht nicht selten Mittelohr- und Lungenentzündungen nach sich. Bei Schulkindern führen Masern etwa in einem von 2000 Fällen zu einer gefährlichen Hirnentzündung. Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten sind Masern heute zwar selten. „Meist kennt heute keiner mehr in seinem Umfeld ein schwer erkranktes Kind, die Bedrohlichkeit der Masern ist nicht mehr präsent“, sagt Martin Priwitzer, der Abteilungsleiter Gesundheitsschutz beim städtischen Gesundheitsamt. Doch Masern gibt es auch hierzulande noch, mit steigender Tendenz.

Die in Wellen auftretende Infektionskrankheit ist wieder häufiger geworden. Während in Stuttgart die meisten Jahre weniger als zehn Fälle vorkamen, hat man 2006 hier 27 Infektionen registriert (im ganzen Land 121), 2008 waren es 13 (383), den vorläufigen Spitzenwert erreichte man 2011 mit 94 Fällen (524), im Vorjahr waren es 19 (Land: 111). „Mehr als die Hälfte der Betroffenen sind Heranwachsende und junge Erwachsene über 14 Jahre, bei denen die Erkrankung schwerwiegender verläuft“, sagt Günter Pfaff, Epidemiologe beim Landesgesundheitsamt. In der Regel treten die Fälle im Umfeld von Schulen auf. So registrierte die Stadt 2011 insgesamt 22 Infektionen an zwei staatlichen und einer privaten Schule sowie 47 Fälle an mehreren Waldorfschulen, weiß Martin Priwitzer.

2015 ist ein „Masern-Jahr“ gewesen

Die Häufung der meist lokal begrenzten Masernwellen ist auf wachsende Lücken in der Infektionsvorsorge zurückzuführen. Weil das nicht nur in Stuttgart so ist, sind Impflücken auch Thema in dem seit Jahresbeginn geltenden neuen Infektionsschutzgesetz. Anders als zuvor sollen die Gesundheitsämter nun „bei erkennbaren Impflücken darauf hinwirken, diese zu schließen“, sagt Amtsarzt Priwitzer.

Was das bedeutet, lässt sich auch am Beispiel der Masernimpfung erläutern. Für diese empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Durchimpfungsrate der Bevölkerung von 95 Prozent. Wird diese Rate erreicht, läuft sich eine auftretende Infektion durch einen von außen kommenden Fall am Ort gewissermaßen tot. In Stuttgart liegt die Impfrate bei der Maservorbeugung aber nur bei 88 Prozent. Das hat die Auswertung der Impfpässe von rund 22 650 Kindern der Einschulungsjahrgänge 2011 bis 2015 ergeben.

„Impfmuffel“ wohnen eher in besseren Gebieten

Betrachtet man die Stadtteile einzeln, liegen die Werte zum Teil sogar noch weit darunter. So hat man eine Durchimpfungsrate von nur 68,8 Prozent bei Kindern der Lenzhalde im Stuttgarter Norden festgestellt. Ebenfalls „deutlich unterhalb“ des Mittelwerts liegen die Ergebnisse der Stadtteile Gänsheide (76,9 Prozent), Uhlandshöhe (74,5), Waldau (75,9), Haigst (76,5) und Botnang-West (72,2). „Deutlich oberhalb“ der WHO-Empfehlung sind dagegen die Ergebnisse der Stadtteile Bergheim (96,2 Prozent), Giebel (96,7) und Hausen (96,5) im Bezirk Weilimdorf. Insgesamt erreichten nur fünf Stadtteile den Wert der WHO, „alle anderen liegen darunter, teils auch sehr weit“, hält der Kindergesundheitsbericht für 2015 dazu fest, und dies sei „unbefriedigend“. Ähnlich sind die Ergebnisse bei den Impfungen gegen Röteln, Windpocken oder Keuchhusten, auch in der räumlichen Verteilung.

Günter Pfaff vom Landesgesundheitsamt sorgt sich etwa wegen zu geringen Impfraten gegen Röteln, die bei Schwangeren bekanntlich zu „komplexen Störungen des ungeborenen Lebens“ führen können. Martin Priwitzer sieht die wachsenden Fallzahlen von Keuchhusten als Problem, die gerade bei Erwachsenen zunähmen. „Wochenlang rumhusten ist sehr unangenehm“, sagt der Mediziner. Für einen Säugling, der angesteckt werde und den man noch gar nicht impfen könne, ende ein Keuchhusten mitunter aber sogar tödlich. Und bei der Grippeschutzimpfung seien die Impfraten bei älteren Menschen und selbst bei medizinischem Personal „sehr schlecht“, beanstandet Martin Priwitzer.

Auch Zeitmangel gilt als Grund für Impflücken

Mit welchem Konzept das Gesundheitsamt die festgestellten Impflücken in absehbarer Zeit beheben will, wie dies gegebenenfalls im Verbund mit den niedergelassenen Ärzten geschehen kann, daran wird noch gearbeitet. Man wolle jedenfalls niemandem etwas wegnehmen.

Hans-Otto Tropp, der Leiter des städtischen Gesundheitsamts, fragt sich allerdings, ob man mit diesem Thema überhaupt in jene Milieus der Stadt eindringen könne, die „aus ideologischen Gründen“ Vorbehalte gegen das Impfen haben. Dies sei jedoch nur eine Gruppe, der man sich stärker annehmen will. Denn vielfach, glaubt Tropp, versäumten Eltern aus „Nachlässigkeit, Zeitmangel oder Stress“ das Durchimpfen ihrer Kinder. Diese Familien, die zum Teil vielleicht gar nicht in die Arztpraxen gingen, könne das Gesundheitsamt auf dem Wege der Einschulungsuntersuchung erreichen.