Die in Ulm geborene und aufgewachsene Mesale Tolu befindet sich mit ihrem zweijährigen Sohn in einem Istanbuler Frauengefängnis. Foto: privat

Für Journalisten wird das Arbeiten in der Türkei immer gefährlicher. Nicht nur der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, auch die deutsche Übersetzerin Mesale Tolu sitzt im Gefängnis. Einige ihrer türkischen Kollegen sind zu langen Haftstrafen verurteilt worden.

Istanbul/Ulm - Nur kurz haben sie am Handy miteinander sprechen können. „Ihre Stimme klang fest und kämpferisch wie immer“, sagt Hüseyin Tolu, „sie darf aus dem Gefängnis heraus aber nur alle zwei Wochen zehn Minuten telefonieren.“ Der 35-jährige Ulmer, der seit Wochen nicht mehr durchschläft und viel zu viel raucht, ist in großer Sorge um seine jüngere Schwester. Mesale Tolu, Dolmetscherin und Journalistin mit deutschem Pass, sitzt seit eineinhalb Monaten in einem türkischen Frauengefängnis, und bis heute haben ihre Anwälte noch nicht einmal Akteneinsicht erhalten. „Sie sollten sie freilassen oder wenigstens abschieben“, sagt Tolu, die Warterei zermürbe alle in der Familie.

Wegen des Verdachts der Terrorpropaganda ist die 33-Jährige am 30. April verhaftet worden, nachts um halb fünf hat eine Spezialeinheit ihre Wohnung in Istanbul gestürmt. Vor den Augen ihres zweijährigen Sohns wurde sie abgeführt. Den Kleinen hat sie mittlerweile zu sich ins Gefängnis bringen lassen. Es fehle an Spielzeug, erzählt Hüseyin Tolu, die Angehörigen hätten die mitgebrachten Geschenke leider wieder mitnehmen müssen. Doch Mutter und Sohn seien füreinander ein Trost – sie schlafen gemeinsam in einem Stockbett.

Solidarität in Ulm ist groß

Sie zu trennen wäre undenkbar gewesen, zumal Tolus Ehemann ebenfalls in Haft sitzt – seit Anfang April. Er arbeitete wie Mesale Tolu auch für die linksgerichtete regierungskritische Nachrichtenagentur Etkin Haber Ajansi, kurz Etha. Es war derselbe Staatsanwalt, der die beiden nacheinander hat festnehmen lassen. Mit 24 anderen Frauen teilt sich Mesale Tolu eine Gemeinschaftszelle, unter ihnen sind Journalistinnen wie Hatice Duman. Die Kurdin und frühere Chefredakteurin der linken Tageszeitung „Atilim“ ist seit 2003 hinter Gitter, ihr Urteil wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung lautete lebenslänglich.

Die Solidarität für Mesale Tolu, die in Ulm geboren wurde und dort zur Schule ging, ist groß. Ihre früheren Lehrer am Anna-Essinger-Gymnasium haben in einer gemeinsamen Erklärung ihre Freilassung gefordert. Wöchentlich wird auf dem Münsterplatz für ein rechtsstaatliches Verfahren demonstriert, und selbst die Gemeinderäte von Ulm und der bayerischen Nachbarstadt Neu-Ulm zeigten sich schockiert von der Festnahme. „Kritische Berichterstattung ist ein fundamentaler Bestandteil demokratischer Willensbildung“, heißt es in einer öffentlichen Stellungnahme.

Zehntausende Menschen sind seit dem versuchten Umsturz in der Türkei vergangenen Sommer festgenommen worden, darunter mehr als 160 Journalisten, die meisten mit türkischem Pass. Mesale Tolu ist dem Auswärtigen Amt zufolge eine von neun deutschen und deutsch-türkischen Staatsbürgern, die in der Türkei in Haft sind. Bereits Mitte Februar ist der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel wegen mutmaßlicher Terrorpropaganda und Volksverhetzung festgenommen worden. Die Bundesregierung dringt seit Monaten auf Yücels baldige Freilassung, die allerdings immer unwahrscheinlicher wird. Als „deutschen Agenten“ und als Aktivisten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hat Präsident Recep Tayyip Erdogan höchstpersönlich den Journalisten gebrandmarkt und in aller Öffentlichkeit vorverurteilt.

Mesale Tolu hat nur die deutsche Staatsangehörigkeit

Anders als Deniz Yücel, der einen deutschen und einen türkischen Pass besitzt, hat Mesale Tolu nur die deutsche Staatsangehörigkeit – und das ist für sie im Fortgang des Verfahrens von großem Vorteil. So steht ihr eine konsularische Betreuung zu, die von der Bundesregierung auch eingefordert wurde. Erhalten hat sie die Betreuung allerdings sehr zeitverzögert. Erst Anfang Juni konnten deutsche Konsulatsmitarbeiter Tolu im Istanbuler Gefängnis besuchen. Einmal die Woche darf ihr Vater sie für eine Stunde sehen, an anderen Tagen schauen ihre türkischen Rechtsanwältinnen vorbei. Ihnen hat sie kurze Briefe diktiert, sie schreibt: „So wie sie mit Deniz Yücel umgegangen sind, gehen sie nun auch mit mir um. Sie wollen die freie Presse zum Schweigen bringen.“ Der Spielraum für Journalisten wird in der Türkei immer enger. Etliche ausländische Korrespondenten haben das Land verlassen, für regierungskritische türkische Medienvertreter steigt das Risiko, angezeigt oder weggesperrt zu werden. Erst vor zehn Tagen ist der Oppositionsabgeordnete und frühere „Hürriyet“-Chefredakteur Enis Berberoglu in Istanbul wegen Geheimnisverrats zu 25 Jahren Haft verurteilt worden.

Seine Schwester habe gewusst, dass sie als Reporterin und Dolmetscherin gefährlich lebe, sagt Hüseyin Tolu, sie sei aber nicht leichtsinnig gewesen – ganz im Gegenteil. Angekreidet werde ihr von den Strafbehörden unter anderem, dass sie bei einer Beerdigung und einer Gedenkveranstaltung für getötete Kommunisten übersetzt habe, sagt er. Was an einem Tag noch legal gewesen sei in der Türkei, gelte an einem anderen plötzlich als illegal und werde entsprechend verfolgt. Politische Vielfalt gäbe es inzwischen nicht mehr. Doch genau dafür setze sich seine Schwester ein. In einem ihrer Briefe, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, schreibt sie: „Wenn mein Sohn alt genug ist, diese Situation zu verstehen, werde ich ihm erklären, dass wir unserer Freiheit beraubt wurden, weil wir die Freiheit verteidigt haben.“

Beim Auswärtigen Amt in Berlin findet der Sprecher Martin Schäfer deutliche Worte: Die Untersuchungshaft sowohl im Fall Mesale Tolu als auch im Fall Deniz Yücel sei unangemessen, und man werde bei den türkischen Behörden auf ein faires Verfahren dringen.