Eine Form der Liebhaberei: Briefmarken sammeln Foto: EPA

Menschen tun es. Auch Einrichtungen wie Museen und Archive: Dinge sammeln. Aber warum eigentlich? Die Gründe und Motive sind ganz unterschiedlich und nur selten zu fassen.

Alle vier Jahre geht bei vielen der Sammelwahn los. Immer dann, wenn eine Fußball-Weltmeisterschaft ansteht. Vor allem Jungs kaufen sich dann ein Panini-Album, und in den nächsten Wochen gibt es nur noch ein Ziel: das Ding so schnell wie möglich vollzubekommen. Allerspätestens zum Anpfiff des Finales soll kein Sticker mehr fehlen. Deshalb zeigen die Kinder und Jugendlichen beim Sammeln ähnlich viel Ehrgeiz wie die Stars auf dem Rasen. Und weil der Kauf der Tütchen schon nach kurzer Zeit ziemlich ins Taschengeld geht, werden die doppelten Klebebildchen gehandelt und getauscht, als wären sie überlebenswichtig. Auf manch einem Schulhof geht es dabei fast so laut und wild zu wie in den letzten Minuten auf dem Hamburger Fischmarkt. Es wird geschrien, gefeilscht, getauscht.

Doch nicht nur heranwachsende Kerle sind in jenen Sommerwochen vom Sammelfieber betroffen, auch erwachsene Männer nutzen ihre Mittagspause dann lieber, um Sticker von Neuer, Messi und Ronaldo zu tauschen als in der Sonne spazieren zu gehen. Die beruhigende Nachricht für alle Frauen und Mütter: Der flächendeckende Fußballsticker-Wahn legt sich nach wenigen Wochen wieder.

Sammeln ist allerdings kein rein männliches Phänomen. Und normalerweise auch kein temporäres. Auch viele Frauen sammeln Diverses. Schuhe zum Beispiel. Oder Schmuck, Kleidung, Puppen, Teddybären. Die Liste dessen, was gesammelt werden kann, könnte nahezu endlos fortgeführt werden: Münzen, Medaillen, Möbel, Uhren, Schallplatten, Briefmarken, Bücher, Zeitschriften, Überraschungsei-Figuren, Postkarten, Gemälde, Skulpturen oder andere Kunstobjekte. Längst ist es auch durchaus gängig, virtuelle Punkte bei Einkäufen in Supermärkten oder Meilen bei Fluggesellschaften anzuhäufen. Dort erhält man später Vergünstigungen, Vorteile oder sogar Gratisleistungen. Eigentlich gibt es nichts, was man nicht sammeln könnte.

Einzelne Menschen tun es – aber auch Einrichtungen wie Museen und Archive. In der Kulturwissenschaft unterscheidet man deshalb zwischen dem individuellen und dem institutionellen Sammeln. Aber warum sammelt man überhaupt?

Das Bedürfnis nach Nostalgie spiele bei beiden Formen des Sammeln eine große Rolle, sagt Thomas Thiemeyer, Junior-Professor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen. Den Ansatz, der hinter diesem Nostalgiebedürfnis steckt, nennen die Experten die Idee von Kompensation. „Die Welt verändert sich schnell. Durch das Sammeln kann man einen bestimmten Moment festhalten, eine Zeit stillstellen“, erklärt Sammlungsexperte Thiemeyer. „Die Dinge haben eine sehr starke Erinnerungsfunktion. Mit ihnen kann man zumindest manchmal auch Sehnsüchte nach der alten, vermeintlich besseren Welt befriedigen.“

Sammeln, um Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren?

Die Kernthese des deutsch-niederländischen Psychoanalytikers Werner Muensterberger (1913–2011) ist indes, dass Angst eine entscheidende Sammelmotivation für den Menschen sei. Sein Ansatz deckt sich in Teilen mit der kulturwissenschaftlichen Kompensationsidee. Doch Muensterberger geht weiter, vermutet tiefergehende Gründe hinter dem Zusammentragen von Dingen. Seine Theorie: Menschen sammeln, weil sie Minderwertigkeitskomplexe kompensieren wollen. Sie erhalten das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, wenn sie für ihre Sammlungen bewundert werden. Sie fühlen sich durch das Sammeln aufgewertet.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch der Sozialpsychologie-Professor Dieter Frey von der Ludwig-Maximilians-Universität München: „Durch das Anhäufen und Demonstrieren von Dingen unterschiedlichster Art gewinnen Menschen Orientierung, leben ihre Leidenschaft, aber auch ihre Eitelkeit und ihren Machttrieb aus“, sagt er. Die Gegenstände geben Frey zufolge nicht nur Orientierung, sondern auch ein gewisses Maß an Kontrolle und Sicherheit, etwa wenn man Belege und Beweise sammelt, um nicht angreifbar zu sein.

Früher waren die Gründe fürs Sammeln ganz andere. Evolutionsbiologisch lässt sich das Sammeln als Urtrieb des Menschen erklären. Schon in der Steinzeit war es für die Neandertaler unerlässlich, Gewächse, Beeren und Wurzeln zusammenzusuchen. Denn es war nicht garantiert, dass die Jäger eines Stammes Beute machten. Manchmal kehrten sie in ihre Lager zurück, ohne ein Tier erlegt zu haben. Die Menschen ernährten sich in solchen Phasen von Früchten statt von Fleisch. Sammeln war für einen Stamm schlichtweg notwendig, um zu überleben.

Kunst- und Wunderkammern sind Vorläufer der Museen und Archive

Das Sammeln von Gegenständen, wie es heute noch gängig ist, entstand erst im 15. Jahrhundert in der Renaissance. Adlige, Kleriker, Akademiker und Humanisten legten sogenannte Kunst- und Wunderkammern an, die als Ursprung der heutigen Museen, Archive und Bibliotheken gelten. Die Motive sind damals wie heute unterschiedlich. „Auf der einen Seite gab es das repräsentative Sammeln, um nach außen zu demonstrieren, was man hat und wer man ist“, sagt Sammlungs- und Museumsforscher Thomas Thiemeyer, „und auf der anderen Seite hatte man das wissenschaftliche Sammeln, das der Wissenserzeugung, Wissbegierde und Wissensmehrung dient.“

Fürsten und Humanisten stellten wertvolle Bilder, Literatur, Schmuck und andere Objekte aus der Antike in ihren Kunstkammern zur Schau, um auserwählten Gruppen ihren Status und Reichtum zu zeigen. Akademiker indes sammelten Gegenstände, um damit die ganze Welt im Kleinen abbilden zu können und neues Wissen zu bekommen Einige Wunderkammern waren Orte der Forschung. Apotheker und Mediziner versuchten, durch Experimentieren mit zusammengetragenen Kräutern und Substanzen neue Medikamente zu entwickeln. Die breite Bevölkerung hatte zunächst keinen Zutritt zu diesen Kammern.

Als Albrecht V., Herzog von Bayern, eine Kunstkammer in München bauen ließ, entwarf sein belgischer Berater Samuel Quiccheberg (1529–1567) eine Art Anleitung mit fünf Objektklassen, nach denen Exponate geordnet und präsentiert werden sollten. Das 1565 entstandene Traktat gilt als erste museumstheoretische Schrift. Auch andernorts begann man im Laufe der Zeit, die gesammelten Dinge zu ordnen und zu klassifizieren – erst in der Naturkunde, wenig später auch in der Kunst. Durch die zunehmenden Übersee-Reisen häuften sich immer mehr Gegenstände an – und auch dadurch wurde immer mehr über die Welt bekannt. Die Sammlungen wuchsen, sie zu vervollständigen glich mit der Zeit aber einem aussichtslosen Unterfangen.

Man verabschiedete sich deshalb vom Gedanken, alles zusammentragen zu wollen. Es war das Ende vom Ideal der enzyklopädischen Sammlung, die das ganze Weltwissen umfasst. „Man begann, Ausschnitte aus der Gesamtheit herauszusuchen, und versuchte, dort möglichst vollständig zu sein“, sagt der Experte Thomas Thiemeyer.

Museen sammeln heute meist anlassbezogen

Nach der Französischen Revolution 1789 wurden Sammlungen allen Menschen zugänglich gemacht. Das französische königliche Kunsteigentum wurde zum nationalen Besitz erklärt, der Louvre in Paris – ein ausrangierter königlicher Palast – zum Museum ausgebaut. Es war der Beginn des Museumswesens, wie man es heute kennt. Seither wird auch in Kunst-, Naturkunde- und Technikmuseen unterschieden, etwas später folgte das kulturhistorische Museum. Sie alle vereinen die Motive, Dinge zu repräsentieren und Wissen zu vermitteln. „Im Gegensatz zu Archiven, die als Behörden alles nehmen, weil sie dokumentieren, sammeln Museen mittlerweile meistens anlassbezogen“, sagt Thiemeyer vom Tübinger Ludwig-Uhland-Institut. Das bedeutet: Die seltenen, kostbaren Stücke, die einen hohen kulturellen Wert haben, werden für eine Sonderausstellung mit einem bestimmten Thema geliehen oder gekauft – jedoch nicht die Gesamtproduktion. „Es geht längst nicht mehr um Vollständigkeit, sondern um Relevanz.“

Beim individuellen Sammeln kommt es indes darauf an, was man sammelt. Es gibt Dinge, bei denen man eine Vollständigkeit erreichen kann – etwa, wenn man alle Münzen einer Kollektion erworben oder alle erforderlichen Bildchen in ein Stickerheft eingeklebt hat. Viele Sammlungen oder Ansammlungen von Dingen bleiben jedoch für immer unvollständig. Was nicht schlimm ist, denn das ist häufig gar nicht das Ziel.

Sammlerstücke als Wertanlage?

In Zeiten von niedrigen Zinsen sammeln immer mehr Menschen aus einem ökonomischen Motiv. Sie investieren in Kunstwerke, Münzen, Briefmarken oder Fahrzeuge – in der Hoffnung, dass der Sammelgegenstand seinen Wert über die Jahre steigert und sie einen finanziellen Gewinn erzielen können. Das kann klappen, muss aber nicht. „Das ist ein bisschen wie beim Zocken mit Aktien“, sagt Thiemeyer. Bei manchen Kunstsammlern ist die Motivation auch eine Mischform aus Statusrepräsentation, Narzissmus und Wertanlage. Sie können einerseits ihre Werke zur Schau stellen und damit angeben, andererseits haben sie das Gefühl, ihr Geld mehren zu können.

Für die allermeisten Menschen ist das Sammeln aber schlichtweg ein Hobby, eine Leidenschaft, eine Liebhaberei – ein Zeitvertreib, der Freude bereitet.