Martha und Maria Estrada (rechts) wollen sich in San Diego eine Existenz aufbauen – und müssen dafür gewaltige Hürden überwinden. Foto: Spang

Martha und Maria stammen aus einer Familie, leben in derselben Stadt und teilen einen Traum: Ohne Angst in dem Land leben zu können, das sie ihre Heimat nennen.

Martha und Maria stammen aus einer Familie, leben in derselben Stadt und teilen einen Traum: Ohne Angst in dem Land leben zu können, das sie ihre Heimat nennen.

San Diego - An das bedrohliche Schlagen der Rotoren können sich die Estrada-Schwestern noch genau erinnern. Martha, 34, hörte es im zarten Alter von elf Jahren als ihre Eltern versuchten, der Armut eines Slums im mexikanischen Tijuana zu entkommen. Zusammen mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Daniel watete die Familie im Schutze der Nacht um das äußerste Ende des Grenzzauns zu den USA, der damals noch am Strand endete. Heute zieht sich der nur unter Lebensgefahr überwindbare Maschendrahtzaun mehr als hundert Meter weit in den Pazifik hinein.

Kaum hatten die Estradas ihren Fuß auf die andere Seite gesetzt, gingen die Scheinwerfer an. Hunde bellten. Stimmen. „Ich hatte Angst“, erinnert sich Martha an die Hubschrauber der Border Patrol, die wie aus dem Nichts auftauchten. Die Grenzschützer schickten die Familie zurück in das Elendsviertel ohne fließendes Wasser und Kanalisation.

Maria, 24, hörte das Brummen der Helikopter Jahre später im East County von San Diego. Die Einwanderer-Polizei (ICE) machte eine nächtliche Razzia in der Wohnanlage, die wegen ihrer günstigen Mieten ein Magnet für nicht-dokumentierte Einwanderer ist. Hier hatten die Estradas eine Bleibe gefunden, nachdem die Flucht im zweiten Anlauf gelang. „Es war ein Höllenlärm“, erinnert sich die damals achtjährige Maria, die getrennt von ihrer Familie mit den Dokumenten einer Cousine über die Grenze kam. Über Flüstertüten forderten die ICE-Beamten alle Leute ohne gültige Papiere auf, sich zu stellen.

Ihre Eltern verrammelten die Tür, machten die Lichter aus und verhielten sich still. „Da habe ich erstmals gemerkt, dass ich anders war“, erzählt Maria von dem Kindheitstrauma, das sie mit Martha teilt, die zehn Jahre älter ist. Für beide war es ein Vorgeschmack auf die Schattenexistenz, die sie mit schätzungsweise 11,7 Millionen illegalen Einwanderer in den USA teilen. Mit dem Unterschied, das keines der beiden dunkelhaarigen Mädchen aus eigenem Antrieb über die Grenze kam. Martha und Maria hatten keine Wahl. Ihre Eltern brachten sie in das gelobte Land.

Diese Erfahrung haben die Estradas mit einer ganzen Generation an Kindern nicht dokumentierter Einwanderer gemein, die niemand gefragt hat. Das Zentrum für Einwanderungspolitik schätzt deren Zahl auf mindestens 1,4 Millionen. Andere gehen von bis zu zwei Millionen Angehörigen aus, die als Minderjährige in die USA gebracht wurden.

Wären sie auf dieser Seite der genau 3169 Kilometer langen Südgrenze zur Welt gekommen, stünden ihnen heute alle Wege offen. Unabhängig vom Status ihrer Eltern hätten sie mit der Geburt auf amerikanischem Boden automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten. So können sie nur davon träumen. „Dreamers“ heißen sie deshalb.

Ihr Alltag wird von Realitäten bestimmt, die man nur erahnen kann, wenn man sie nicht kennt. Martha und Maria gestehen, sie hätten den Treffpunkt für das Interview – eine Konditorei unweit der Universität – so ausgewählt, dass er leicht mit dem Bus zu erreichen sei. „Ohne Papiere bekommst Du keinen Führerschein und ohne Führerschein kein Auto“, erklärt Martha, die ihr Leben rund um den bescheidenen öffentlichen Nahverkehr organisiert hat. Maria prüft ihrerseits vor jedem Kinobesuch, wann der Film endet. Im fußgängerfeindlichen San Diego kommt sie sonst nicht nach Hause.

Gemessen an den anderen Einschränkungen, lässt sich damit noch leben. „Am schlimmsten ist die Furcht, entdeckt und abgeschoben zu werden“, gesteht die ältere der beiden Estrada-Schwestern. So wie Bruder Daniel, den die Einwanderungspolizei bei einem Warteplatz für Tagelöhner aufgriff und zurück nach Mexiko schickte. Das schlimmste dabei wäre für Martha nicht die Sorge um ihre eigene Zukunft, sondern um die ihrer alleinstehenden Mutter, die Gesundheitsprobleme hat. „Ich muss mich um sie kümmern“.

Wie damals, 2002, als der Vater die Familie verließ und Martha für Maria die Rolle der Mutter übernahm. Die putzte derweil Häuser und schuftete in Küchen, um die Kinder über die Runden zu bringen. Trotz der Härte machte die Musterschülerin einen Einserabschluss und boxte sich bis zum Master-Abschluss in Öffentlicher Gesundheit durch. Die 5000 Dollar Studiengebühren im Jahr musste sie nebenbei verdienen. Oft zum Mindestlohn. Während der Schulbesuch frei ist, werden die „Dreamer“ im College wie Ausländer behandelt. Öffentliche Mittel gibt es für sie so gut wie keine.

So ging es auch Maria, die ihre Zulassung zu einem Studium für Krankenschwestern erkämpfen musste. Als sie es endlich schaffte, versuchte sie jemand aus dem Programm zu drängen. Den Platz sollte ein US-Bürger bekommen. Die Powerfrau mobilisierte ihr gesamtes Unterstützernetzwerk und ihre Professoren, um den Rausschmiss abzubiegen.

Derweil hofften Maria, Martha und viele andere „Dreamer“ auf Veränderungen in Washington. Mit Barack Obama saß seit 2008 ein Präsident im Weißen Haus, der mit großer Unterstützung der Latino-Gemeinde ins Amt gewählt worden war. Im Kongress machten die Demokraten Druck, den Dream-Act zu beschließen, der den Kindern der illegalen Einwanderer einen Weg zur Staatsbürgerschaft ebnen sollte.

Als das Gesetz im Dezember 2010 durch taktische Finessen der Republikaner im Senat zu Grabe getragen wurde, platzte für viele Einwanderer-Kinder ein Traum. Martha verabschiedete sich von ihrem ersten Berufswunsch, Lehrerin zu werden. „Keine staatliche Einrichtung könnte mich ohne Papiere beschäftigen“, realisierte sie. Maria, die sehr viel offensiver auftritt als ihre vorsichtige Schwester, entschied sich, aus dem Schatten herauszutreten und sich politisch zu engagieren. „Die Ablehnung im Kongress war ein Weckruf für uns.“

Und es gab Vorbilder wie den Pulitzer-Preisträger der Washington Post, Jose Antonio Vargas, der sich 2011 als Kind illegaler Einwanderer outete. Sein Essay gab der „United We Dream“-Bewegung Aufschwung. Maria half dabei, in San Diego eine Gruppe von Aktivisten zu organisieren. Nach der Wiederwahl Obamas 2012 keimte neue Hoffnung auf. Der Präsident holte mehr als 80 Prozent der Latino-Stimmen, die Mitt Romney und die Republikaner für deren Haltung zur Einwanderung abstraften.

Die Konservativen müssten sich nun bewegen, urteilten Analysten. Angesichts des wachsenden Einflusses der Hispanics hätten sie andernfalls nie wieder eine Chance, das Weiße Haus zu gewinnen. Eine Fehlannahme, die übersah, wie verbohrt der Widerstand des rechten Tea-Party-Flügels blieb. Den überzeugte weder die Rekordzahl von 1,9 Millionen Abschiebungen während der Präsidentschaft Obamas, noch reichte ihnen die Zusage in dem Reformpaket, über 700 Meilen neue Grenzzäune zu ziehen und die Zahl der Grenzpolizisten auf 40 000 zu verdoppeln.

Die vom Senat beschlossene umfassende Einwanderungsreform scheiterte 2012 im Repräsentantenhaus. Unter Druck der Latino-Gemeinde schritt Obama zur Tat und beendete die Abschiebung aller „Dreamer“, die zu einem Stichtag das 30. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten. Gleichzeitig öffnete DACA, wie die Abkürzung der Anordnung heißt, einen Weg in die Legalität. Seitdem haben mehr als eine halbe Millionen „Dreamer“ eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis erhalten, können einen Führerschein erwerben und sich um Hilfen für das Studium bewerben.

„Für mich hat das vieles einfacher gemacht“, sagt Maria. Selbst wenn die Schikanen bleiben. So musste sie kürzlich um ihre Ausbildungsbeihilfe kämpfen, weil die Mutter vergessen hatte, eine Steuererklärung für ihre Mini-Einkünfte abzugeben. Während die Einwanderungsbehörde Illegale bestenfalls ignoriert, treibt die Steuerbehörde bei ihnen jeden Cent ein. Laut Schätzungen des Institutes für „Taxation and Economic Policy“ zahlten Einwanderer ohne Papiere nicht nur 21 Milliarden Dollar an Steuern, sondern füllen auch die Rentenkassen mit 15 Milliarden Dollar auf. Ohne später Ansprüche geltend machen zu können. Der Einwanderer, der dem Staat auf der Tasche liegt ist ein Mythos.

Für Martha bleibt die Lage anhaltend aussichtslos. Sie verpasste den Stichtag für DACA um ein Jahr. Ob sie einen Job als „öffentliche Gesundheitsberaterin“ findet, steht in den Sternen. Viele dieser Stellen werden vom Staat ausgeschrieben. Ihren Freund, der an seiner Doktorarbeit sitzt, will sie nicht bloß heiraten, um einen legalen Status zu bekommen. Dafür ist die Frau mit dem traurigen Blick zu stolz.

Zurück nach Mexiko? Die Erinnerungen an ihre frühen Kindheitstage sind bis auf das bedrohliche Brummen der Helikopter und die traumatische Abschiebung nur vage. „Vielleicht als Plan B“, sagt sie in geschliffenem Englisch, während sich ihre Augen mit Wasser füllen. In Wirklichkeit will Martha weder ihre Mutter noch ihre Schwester und schon gar nicht ihre Heimat San Diego verlassen. Sie hat keine andere. „Ich bin Amerikanerin, selbst wenn mir die Papiere fehlen."