Dem Fest der Liebe kann man auch auf Reisen nicht entfliehen - und braucht es auch gar nicht. Einmal im Jahr möchte der Mensch die Tanne deko­rieren.

Eigentlich dekoriert die Natur die Tannen, klemmt ihnen schön gewachsene Zapfen unter Zweige, hängt ihnen ein paar Spinnweben zwischen die Äste. Und manchmal landen sogar Vögel im Geäst, rennen Eichhörnchen den Stamm hinauf. Einmal im Jahr möchte der Mensch die Tanne dekorieren, ihr bunte Kugeln anhängen und Kerzenhalter auf die Zweige klemmen. Damit das vernünftig funktioniert und er beim Bestaunen der neu geschaffenen Schönheit nicht im Wald sitzen und frieren muss, sägt er die Tanne ab und veranstaltet all den Zinnober im heimischen Wohnzimmer.

Es gibt Leute, die das nicht mögen. Solche, die sagen, das ganze Brimborium rund um Weihnachten ist ihnen zu viel geworden: all der Zirkus rund um die Tanne, all die Gänsebraten, die Geschenke, die Verwandten - und der Beschaffungsstress in den Wochen vorher, um auch ja alle angemessen glücklich zu machen und bloß keinen zu vergessen. Sie gehen nicht ins Kaufhaus, sondern ins Reisebüro und beschenken sich rechtzeitig selbst: mit organisierter Feiertagsflucht. Die Hauptrückzugsrichtung: der Süden. Das Wunschklima: möglichst schön warm. Die Ideallösung: Ende Dezember so etwas wie einen Zweit-Sommerurlaub in wärmeren Gefilden verbringen und möglichst gar nicht an Weihnachten erinnert werden. Leider geht der Plan zumindest im Detail oft schief - weil es die anderen so gut meinen: Da ist der Pilot des Ferienfliegers, der beim Boarding aus der geöffneten Cockpittür lächelt und sich zur Feier des Tages eine rote Zipfelmütze mit weißem Saum und nicht minder weißem Bommel übergestülpt hat. Leider lässt ihn genau das prompt nur noch eingeschränkt vertrauenerweckend wirken. Da sind die aparten Stewardessen, die die Borddurchsage mit sonorem „Ho, ho, ho, nun die Sicherheitshinweise“ beginnen, als säße man auf dem flugbereiten Schlitten von Knecht Ruprecht. Wenig später ziehen sie durch die Reihen und verteilen Schoko-Weihnachtsmänner.

Der Rezeptionist trägt Zipfelmütze und ruft „Ho, ho, ho“

Im Transfer-Bus vom Flughafen zum Hotel tropft später „Jingle Bells“ aus den Lautsprechern, und weil alle etwas davon haben sollen, dreht der freundliche Fahrer extra lauter. Im Kofferraum schaukeln derweil drei eher schmächtige Kiefern in weißen Netzen mit Richtung Hotel - Reisegepäck dreier Paare, die irgendwie von der nicht so ganz ernst gemeinten Airline-Aktion Wind bekommen hatten, Weihnachtsbäume auf sogenannten Mittelstrecken in den Tagen vorm Fest kostenlos zu transportieren, solange es beim One-Way-Ticket für die Tannen bleibt. Auch im Hotel meinen es alle gut mit den Gästen aus dem christlichen Abendland, und deshalb ist das ganze Haus festlich dekoriert. Sie ahnen schon. Mit Lametta, Kugeln, Tannenzweigen. Der Rezeptionist trägt Zipfelmütze und ruft „Ho, ho, ho“, während er das erste Mal die Zimmerschlüssel aushändigt. Dort angekommen, wartet auf dem Tischchen bereits eine Fotokopie mit dem Hinweis, dass das obligatorische Weihnachtsessen diesmal fünf Gänge umfassen werde und der Küchenchef sich freue, Gänsebraten nach deutscher Art zuzubereiten.

Den ebenfalls obligatorischen Aufpreis dafür hatte das Reisebüro im Vorfeld bereits mitberechnen und einkassieren müssen. Die Weihnachtsflucht wird einem offenbar nicht leicht gemacht - zumindest sofern man in der Gegend bleibt, im Drei-Flugstunden-Radius sozusagen. Auch Nordamerika sollte man besser nicht als Reiseziel erwägen. Da bleibt fürs nächste Mal nur die Gegenrichtung: nach Osten, nach Süden, beides zugleich. Am besten an den Persischen Golf, in die Emirate. Doch auch dort weiß man genau, was Winterurlauber wünschen: Gänsebraten zum Beispiel. Diesmal mit Dattelfüllung. Und als Weihnachtsmänner in vollem Rot-Weiß-Ornat jobben jede Menge junger Inder in den Shopping-Malls. Was sie rufen? Genau das. Wie diese Einkaufszentren dekoriert sind? Mit Tonnen diesmal goldenen Lamettas. Und mit Tannen. Mit sehr vielen Tannen, weil es am Golf zur Kultur gehört, sich nicht lumpen zu lassen, wenn es um Gastfreundschaft und ums Wünscheerfüllen geht. Und um die Ausrichtung eines Festes. Was bleibt fürs nächste Jahr? Gründlich an der eigenen Einstellung zu arbeiten. Weihnachten ist alternativlos. Also nicht mehr vor dem Weihnachtsfest und seiner Inszenierung fliehen, sondern allenfalls die Umsetzung des Festes in anderen Weltgegenden studieren wollen. Oder einfach wieder ganz entspannt zu Hause bleiben: mit Tanne, Kugeln, Kerzen, Lametta, mit Verwandten, Geschenken und dem Gänsebraten. Mit einem Weihnachtsspaziergang, mit all den Kindheitserinnerungen und dem gemeinsamen Gang in die Kirche. Schön eigentlich. Ho, ho, ho.