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Richard Widmann war 23 und studierte Jura, als er die Fotos machte, die sein heute 82-jähriger Sohn dem Stuttgart-Album geschickt hat. Wir erinnern in unserer Serie heute an den Wochenmarkt und an Ballonfahrten auf dem Wasen.

Stuttgart - Was die Marktfrau mit der hochgesteckten Frisur, dem schwarzen Kleid und der Schürze auf dem Wochenmarkt gegenüber der Stiftskirche verkauft hat, sehen wir nicht. Auf ihrem Holzwagen scheinen die Kisten schon weitgehend leer. Es war kein überbordendes Sortiment an Obst, Gemüse und Blumen, mit dem heute – also 100 Jahre später – die Händler an selber Stelle den Schillerplatz in ein buntes Blütenmeer verwandeln. Schillerplatz? Damals hieß er noch Alter Schlossplatz. Erst 1934 wurde der gepflasterte, zentral gelegene Platz nach dem Dichterfürsten benannt, der freilich schon seit 1839 auf dem Denkmal thront.

Als Jurastudent ist Richard Widmann, der sich später als Anwalt wie auch sein Sohn Rolf Widmann einen Namen in Stuttgart gemacht hat, mit seinem Fotoappart durch die Stadt gezogen. Damals war so eine Kamera ein Luxusgerät, das nicht viel leisten konnten. Richard Widmann war 23 Jahre alt, als er mit einer ganz besonderen Technik seine Aufnahmen machte. Er bannte sie auf Glasplatten, weshalb sie noch heute hochauflösend sind. Es war das Jahr 1913. Obwohl es Fußball noch nicht zum Massensport geschafft hatte, war der Jubel in der Stadt enorm: Im Mai 1913 haben die Stuttgarter Kickers die Süddeutsche Fußballmeisterschaft gewonnen. Karl Lautenschlager, der als erster die Stadt unter dem Titel Oberbürgermeister regierte, reiste als Vorstandsmitglied des Deutschen Städtetags zur 25-Jahr-Thron-Feier von Kaiser Wilhelm II. in die Reichshauptstadt Berlin, Helene von Reitzenstein bezog ihre Villa, die zum späteren Regierungssitz geworden ist, und im Großen Haus war Enrico Caruso als „Don Jose“ zu hören. Der junge Jurastudent Richard Widmann hielt mit seiner Kamera einen weiteren Höhepunkt fest: die Ballonwettfahrt auf dem Cannstatter Wasen. Es war das Jahr 1913. Ein Jahr später zog der Student an die Front des Ersten Weltkriegs.

Auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums im Internet sind die Fotos von Richard Widmann auf große Resonanz gestoßen. „Schön darauf achten“, schreibt Achim Heise zum Ballonbild, „die Fläche auf dem Ballon ist werbefrei.“ Isabell Hänger freut sich über das „tolle Foto“, merkt aber an: „Eingestiegen wäre ich da nie – das sah doch sehr wacklig aus.“ Bolon Yokte hat sich das Foto vom Wochenmarkt ganz genau angeschaut und weist auf folgendes hin: „Hinten links ist der alte König von England mit seinen Schablonenmalereien an der Fassade zu sehen.“ Richard Widmann hat außerdem den Schlossplatz im Jahr 1913 fotografiert, was die Internet-Gemeinde des Stuttgart-Albums erstaunen lässt. Damals waren die Statuen noch nicht auf ihrem heutigen Platz, und es gab Gasbeleuchtung.

Das weitere Foto vom Wochenmarkt, das in der heutigen Folge unserer Serie zu sehen ist, stammt aus den 1920er Jahren, es wurde von der Stiftskirche aus gemacht. Von Rolf Heerbrandt haben wir es bekommen, es stammt aus der Sammlung seines Vaters. Der Fotograf heißt Hommel.

Der Wochenmarkt im Herzen der Stadt hat eine lange Geschichte: Viele Jahrhunderte lang bildeten Weinbau, Landwirtschaft, Handwerk die wirtschaftliche Basis Stuttgarts. So ist es nicht verwunderlich, dass bereits kurz nach der Erhebung Stuttgarts zur Stadt Mitte des 13. Jahrhunderts ein „forum mercatorium“ urkundlich erwähnt wird. Als der junge Jurastudent Widmann seine Fotos machte, wurde gerade die Markthalle gebaut, um die Händler vor Wind und Wetter zu schützen.

Auf dem Marktfoto von 1913, das Richard Widmann gemacht sind, dürfte die Marktfrau bald Feierabend haben. Einige ihrer Kisten sind leer. 1913 gilt als das Jahr, als unsere Gegenwart begann. Es war das Jahr, bevor Richard Widmann in den Krieg musste, den er glücklicherweise überlebte. Sonst hätte uns sein heute 82-jähriger Sohn nicht mit diesen großartigen Aufnahmen erfreuen können.