Auch wenn es zum Klischee passt: Aber diese Art von leben und leben lassen gehört dazu. Foto: dpa

Ein „Ökosystem“ aus Forschung, Firmen und Start-ups vernetzt sich zusehends, und trotz einer Zuwanderung von jährlich mehr als 20.000 Menschen werden Fachkräfte knapp.

München - Watson kommt. Aber er ist nicht allein, und einsam gleich gar nicht. Wenn der amerikanische Computergigant IBM sein Welt-Entwicklungszentrum für das „Internet der Dinge“ in München ansiedelt, wenn in der „Parkstadt Schwabing“ künftig 1000 Beschäftigte mit der künstlichen Intelligenz des Watson-Computers an der umfassend vernetzten Industrie 4.0 arbeiten sollen, dann tun sie das in einem bestens beackerten Umfeld: München, so befindet eine EU-Studie, ist schon jetzt der führende IT- und Digitalisierungsstandort Europas.

Und nicht nur in diesem Zukunftsbereich boomt München. An Deutschlands Spitze liegt es auch bei der Biotechnologie und bei den jungen, unkonventionell-kreativen Unternehmensgründungen, jedenfalls bei den auf Dauer erfolgreichen – und über die Lautstärke, mit welcher Berlin auf diesem Feld den ersten Platz beansprucht, lächeln die Bayern nur leise.

IBM will in München „nahe an Kunden und Partnern sein“

An ihre anderen Superlative hat sich die Hauptstadt des weiß-blauen Freistaats längst gewöhnt: dass sie die höchste Lebensqualität in Deutschland aufweist zum Beispiel (und nach Wien, Zürich, Auckland die vierthöchste in der Welt); dass ihre Bewohner – natürlich nicht alle – über 38 Prozent mehr Kaufkraft verfügen als der bundesdeutsche Durchschnitt, dass die Arbeitslosigkeit die niedrigste in deutschen Großstädten ist, und die Mieten – eine Kehrseite muss die Sache ja haben – um fast zwei Drittel über Deutschlands Durchschnitt liegen, so hoch und tendenziell unbezahlbar wie nirgendwo sonst.

„Man muss im Internet-Zeitalter mit seiner Firma nicht mehr in München sitzen, um in München Geschäfte zu machen“, sagt Eva Puckner vom Wirtschaftsreferat der Stadt: „Trotzdem kommen sie alle zu uns.“ Hier lässt sich eine der auffälligsten Paradoxien der Zeit am besten beobachten: je dichter die weltweite Vernetzung, umso wertvoller eine enge räumliche Nähe. „Cluster-Bildung“ ist das Zauberwort; IBM begründet Watsons Ansiedelung damit, man wolle eben „nahe an den Kunden und Partnern sein“.

Diese gibt’s, neben einer schier unerschöpflichen Menge an Investitionsgeld, in München zuhauf. Aus einer Stadt des Wissens, sagt Puckner, sei eine „Stadt des Wissenstransfers“ geworden. Firmen und Forschung sind – so Puckner – „in wechselseitiger Befruchtung“ zu einem speziell Münchner „Ökosystem“ zusammengewachsen, und was früher in Fachrichtungen auseinanderfiel, denkt heute laut einer städtischen Studie in „Querschnittsaufgaben“ und Vernetzung. Die Wachstumsraten sprechen für sich: Die IT-Branche in der engeren Region München hat die Zahl ihrer Angestellten zwischen 2008 und der letzten verfügbaren Studie 2014 um 40,4 Prozent ausgebaut (Vergleich Deutschland: 26 Prozent); der Umsatz liegt mit ebenfalls stetigem Wachstum jenseits der zehn Milliarden Euro.

Großindustrie und Großforschung sind eng verknüpft

Da ist Siemens, da ist das Produktions- und Zuliefersystem der Autoindustrie – zuvörderst BMW und im nahen Ingolstadt Audi –, die mit der Tendenz zum Roboterauto einen riesigen Hightech- und IT-Boom angezogen hat; da ist die Luft- und Raumfahrt; da sind die Ludwig-Maximilians- und die Technische Universität, beides Bildungsstätten von Weltrang, dazu die Bundeswehr-Uni und die Hochschule für angewandte Wissenschaften, die im Viererpack nicht nur Fachkräfte in rauen Mengen ausspucken, sondern zusammen mit und neben der konventionellen Industrie auch noch eigene Gründerzentren errichtet haben. Da sitzen Großforschungsinstitute der Fraunhofer-, der Helmholtz- und der Max-Planck-Gesellschaft – letztere zum Beispiel gleich zweifach auf dem „Biocampus Martinsried“ am südwestlichen Stadtrand, der in seiner räumlichen Ballung unter Einschluss des Klinikums Großhadern zu einem der weltweit größten Zentren für biochemisch-medizinische Grundlagenforschung, Lehre und technologische Innovation geworden ist. Und das biotechnologisch ausgerichtete Gründerzentrum IZB bringt die unternehmerische Seite in ein Martinsried, wo alles fußläufig zu erreichen ist. 160 Firmen, sagt IZB-Chef Peter Hanns Zobel, habe sein Institut in den letzten zwanzig Jahre ausgebrütet und flügge gemacht: „Nur acht Insolvenzen waren zu verzeichnen.“

Als ein großer Vorteil Münchens gilt, dass sein wirtschaftliches Wohlergehen nicht an einer einzelnen Branche hängt, sondern sich einem gewachsenen „Mix“ verdankt, in dem praktisch alle Wirtschaftszweige vorhanden sind, was einzelne Konjunkturdellen leicht ausgleicht und eine Öffnung nach allen Seiten ermöglicht. Stadt und Freistaat fördern die Vernetzung.

Technologiezentrum statt Kartoffelknödel

Als ein Sinnbild des Münchner Wandels gelten das staatliche „Zentrum Digitalisierung Bayern“ – es liegt in Garching, gleich neben der Technischen Universität – und das „Werk 1“, direkt am Ostbahnhof. Wo früher Pfanni seine Kartoffelknödel herstellte, ist seit drei Jahren – in den „naturbelassenen“ Produktionshallen – ein von Staat und Stadt gefördertes Gründerzentrum eingezogen.

Dort tüfteln die „jungen Wilden“ der digitalen Szene an ihren Apps für die mobile Internet-Zukunft – oder revolutionieren in einem Projekt die deutsche Versicherungsbranche. Und mögen neben IBM auch Google und Microsoft mit großen Zentren in München sitzen – den Start-ups in „Werk 1“ ist diese Welt schon zu etabliert: „In die Parkstadt Schwabing geht doch keiner von uns“, sagt ein aufstrebender App-Entwickler: „Das sind alles in sich abgeschlossene Welten, und hier haben wir den unmittelbaren persönlichen Austausch.“ Im Rest des einstigen Pfanni-Geländes baut München derzeit auch sein großes, schickes Konzerthaus der Zukunft. Architektonisch wird das zum rohen „Werk 1“ nicht so recht passen, aber irgendwie passt’s dann doch wieder: die Kultur, die Geschichte und die Wirtschaft von morgen – der „Münchner Mix“, auf den die Stadt so stolz ist.

Hohe Immobilienpreise – aber auch mehr Geburten

Mehr als zwanzigtausend Menschen streben jedes Jahr nach München – den explosionsartig wachsenden Immobilienpreisen zum Trotz. Es sei – so bestätigen es alle Umfragen – das Lebensgefühl, so im Großen und Ganzen mit Biergärten und Bergen, der Ruf Münchens als „südlicher“ Stadt des Easy Living, der die Menschen ungebrochen anziehe. Ein Mensch aus der Finanzbranche sagt, es sei sehr viel leichter, Frankfurter Kollegen nach München abzuwerben, als Münchner nach Frankfurt. Allen Kosten zum Trotz: 92 Prozent der vom Münchner Referat für Arbeit und Wirtschaft befragten Firmen sagen, sie seien mit der Stadt zufrieden. Einzig der Mangel an qualifiziertem Personal – Facharbeiter fehlen vor allem, Akademiker gibt es auf Dauer genug – könnte die Entwicklung bremsen, heißt es. Noch etwas boomt in der bayerischen Landeshauptstadt, noch stärker als im Rest Deutschlands: die Zahl der Kinder. Die Geburtenrate ist 2015 zum neunten Mal in Folge gestiegen und liegt so hoch wie zuletzt in den sechziger Jahren. Es kämen eben so viele junge Leute nach München, heißt es in der Stadtverwaltung, und sie gründeten hier gerne eine Familie. Wenn das kein Zeichen für Vertrauen in die Zukunft ist.