Corinna Harfouch (Projektion oben) und Fritzi Haberlandt in „Herbstsonate“ Foto: Bettina Stöß

Zwei der interessantesten Schauspielerinnen des deutschsprachigen Theaters liefern sich am Samstag in Jan Bosses Inszenierung des Bergman-Filmes ein Mutter-Tochter-Duell: Es ist ein umjubelter, albtraumhaft leuchtender Prachtabend geworden.

Stuttgart - Eva (Fritzi Haberlandt) steht stramm, starrt ihre Mutter Charlotte (Corinna Harfouch) an wie einen Geist. Charlotte, weißer Hosenanzug, waldgrüne Bluse, ist soeben in Evas Haus angekommen, mit festem Schritt, erhobenen Hauptes, selbstbewusst und schön. Aus gebührender Entfernung beobachtet sie ihre steif dastehende Tochter, bodenlanger Rock, hochgeschlossene Bluse. Sie erzählt kühl, beherrscht von den letzten Stunden, die sie bei ihrem Freund Leonardo verbracht hat, vom Krankenhaus, dem Geruch, dem Tod.

Keine Tränen. Eva setzt einen besorgten Blick auf, man sieht ihr aber an, dass ihr ganz andere Sachen durch den Kopf gehen. Vielleicht: Wie wird es werden mit der berühmten Pianisten-Mutter nach sieben Jahren, in denen sie sich nicht gesehen haben? Vielleicht auch: Wie fremd ist mir diese Frau, die mich in meiner Kindheit so oft verlassen hat, aber auch mit ihrer Dominanz gequält hat?

Da ist etwas grundlegend nicht in Ordnung

Eine starke Eröffnung. Ingrid Bergmans Charlotte und Liv Ullmans Eva wahren im Film, um Harmonie bemüht, die Konventionen, bevor Eva nächtens ihrer Mutter die Verletzungen offenbart, die sie meint von ihr empfangen zu haben. Im Theater hingegen kann man sofort spüren, dass da etwas grundlegend nicht in Ordnung ist.

Eine Szene, die bezeichnend ist für den Abend. Regisseur Jan Bosse hält sich an die Vorlage, hat der Deutung Bergmans nichts hinzuzusetzen. Er variiert das Original von 1978 mit grandiosen Schauspielerinnen: Auch Bosse zeigt, dass jeder Mensch in seiner Wirklichkeit, seiner Sicht der Dinge gefangen ist. Er pointiert allerdings, spitzt zu, die Charaktere sind kantiger, witziger, auch sympathischer, weil sie ihre heuchlerische Fassade schneller herunterreißen.

Kaum ist Charlotte fertig mit ihrem Trauermonolog, taxiert sie ihre Tochter, stellt in bemerkenswert trockenem Ton fest: „Schrecklich mager bist du geworden. Man sieht, dass du nicht richtig glücklich bist.“ Das sitzt. So geht das weiter mit den mehr oder weniger subtilen Gemeinheiten.

Die Mutter findet die Tochter spießig

Ein etwas langer Begrüßungskuss für Evas deutlich älteren Ehemann Viktor (Andreas Leupold). Ihr Selbstgespräch vor dem gemeinsamen Essen mit trotzig behaupteter Unlust, sich für die Jahre der Abwesenheit schuldig zu fühlen und Eva nicht beigestanden zu haben, als ihr dreijähriger Sohn Erik ertrank. Ihre amüsierte Reaktion auf Viktors Tischgebet, in das sie unbekümmert hineinredet: All das macht deutlich, dass Charlotte das Landleben von Eva und Pfarrer Viktor ziemlich spießig, kleinbürgerlich erscheint.

Einmal machen Mutter und Tochter gemeinsame Sache — ausgerechnet in der berühmten Klavierszene, in der Eva ihrer Mutter, der gefeierten Pianistin, Chopin vorspielt. Charlotte erklärt ihrer Tochter, die das unbedingt wissen will, wie sentimental sie spielt und wie wenig sentimental Chopin nun mal sei. Viktor sagt, wie viel gefühlvoller er aber Evas Interpretation finde. Das nun ist für beide Damen überhaupt kein Kriterium. Sie spazieren hell lachend Arm in Arm davon.

Eva kann es also auch, sie liebende Menschen abblitzen lassen. Haberlandts Eva ist stärker als die von Liv Ullmann. Schnippisch sagt sie, die Mutter habe ja wohl ihren Brief nicht gelesen, in dem sie davon erzählte, wie sie ihre kranke Schwester Helena bei sich daheim aufgenommen habe. Und führt die Mutter sogleich in Helenas (Natalia Belitski) kleines Zimmer. Grandios, wie Harfouch die Charlotte schlecht schauspielern lässt – die Hände in den Hüften, gequältes Lächeln, Gesten, die kaum ihre Hilflosigkeit, ihre ungeduldige Wut verbergen.

Hervorragende Inszenierung der Sticheleien

Und wenn die Mutter vor dem Schlafengehen ihrer Tochter von erotischen Erfolgen erzählt, rollt diese peinlich berührt die Augen. Meist verliert Eva aber solche Scharmützel: Weil ihre Mutter scharfzüngig reagiert, versucht die Tochter rasch, deren Gunst zurückzuerlangen. Jan Bosse ist hervorragend in der Inszenierung derartiger Sticheleien. Das ist seine Stärke: das genaue Arbeiten an solchen Details, an Blicken, Gesten, die das Gesagte plötzlich in einem komplett anderen Licht erscheinen lassen.

Bei der großen Abrechnung zwischen Tochter und Mutter nach etwa einer Stunde ist nicht viel im Detail umzudeuten, das ist die ganz große Psycho-Show. Haberlandts Eva bewahrt allerdings etwas mehr Contenance als die Eva im Film, Harfouch betont deutlicher Charlottes hysterische Weinerlichkeit, die nicht immer ganz echt wirkt. Nach dem Showdown sitzen Mutter und Tochter im schwarzen Unterhemd nebeneinander, völlig fertig. Zwei Töchter, die von ihren Müttern keine Liebe bekommen haben und psychisch beschädigt sind.

Jan Bosse interessiert die überzeitliche, die psychologische Tiefbohrung mehr als die immer noch aktuelle Frage nach neokonservativen Lebensentwürfen, nach Karriere und Familie. Die Bühne von Moritz Müller – ähnlich wie in Bosses Inszenierung von Bergmans „Szenen einer Ehe“ – ist wieder eine Freud’sche: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus (seiner Seele). Der Mensch sei gesteuert durch seine Triebe, das Unbewusste, hat der österreichische Erfinder der Psychoanalyse postuliert. Das nehmen Bosse und Müller wörtlich. Und so verirren sich die Figuren in übereinandergestapelten Kammern, besteigen Stufen, die ins Nichts führen, fallen Stufen hinab, die irgendwo aufhören. Eine Szenerie, der man noch mehr Albtraumhaftigkeit gewünscht hätte als fahles Licht, Figuren in puppenartigen Pettycoatkleider, Geisterbahngesten, bei denen man mit ausgestreckten Armen gierig nach jemandem greift.

Bei allen auch komischen Momenten – Familie ist ja doch oft ein auswegloser Horror. Reinigend war diese Aussprache nicht. Charlotte tut, was sie immer tat, wenn es kompliziert wurde: Sie reist ab. Eva bleibt gefangen in ihrer Tochterrolle. Ihr Entschuldigungsbrief ist zudem derart vom Geist des christlichen Ehemannes geprägt, dass der ihn vorliest: „Es darf nicht zu spät sein.“ Dieser Versöhnungssatz mag dem anstehenden Christfest geschuldet sein, wirklich hoffen lässt er nicht. Jubel nach zwei Stunden für herausragende Schauspielerinnen.

Weitere Termine: 22. Dezember, 2., 3., 4. Januar, 28. Februar. Karten: 07 11 / 20 20 90.