Die Begleitung von behinderten Menschen an deren Lebensende ist herausfordernd Foto: Rost

Welche Wünsche haben geistig behinderte Menschen für ihr Sterben? Können diese Wünsche realisiert werden? Und wer darf am Ende für diesen Menschen über Leben und Tod entscheiden? In der Praxis stellt Angehörige und Betreuer oft vor ein Dilemma, wie der Fall einer Stuttgarterin zeigt.

Stuttgart - Susanne starrt blicklos ins Nichts. Und doch scheint sie etwas zu sehen. Es müssen Bilder von gestern sein. Susannes gestern war vor vielen Jahren. Da arbeitete ihr Gehirn wenigstens noch ab zu verlässlich. Jetzt ist nicht mehr viel da. „Ihr Hirn hat sich langsam zu einer Soße zersetzt“, sagt Jürgen Rost, Leiter des Hauses Elisabeth für geistig behinderte Menschen.

Susanne, die im November 55 wird, hat die seltene Niemann-Pick-Krankheit. Eine Stoffwechsel-Erkrankung, die aus einer gestanden Ehefrau und Mutter einer Tochter allmählich dieses pflegebedürftige Bündel Leben gemacht hat. Nichts geht mehr selbstständig. Essen schon gar nicht. Der Schluckreflex hat ausgesetzt. Susanne wird per PEG-Sonde künstlich ernährt.

Für ihren Pfleger ist das ein Jammer. Er kennt Susanne seit 15 Jahren. „Damals war sie eine stolze Frau“, sagt der Heilerziehungspfleger, „dass sie heute so dahinsiechen muss, hat wenig mit Würde oder würdevollem Sterben zu tun. Sie hätte das sicher nicht so gewollt.“

Muss die Sondenernährung sein?

Nun kann Susanne keiner mehr fragen. In ihren letzten lichten Momenten vor vielen, vielen Jahren habe sie ihrem Pfleger aber oft signalisiert, dass sie keine lebensverlängernden Maßnahmen wünscht. Es war das letzte Aufflackern von Selbstbestimmtheit. Ein Akt des Flehens, der freilich keine rechtliche Bindung hat. Eine rechtmäßige Patientenverfügung gibt es nicht. Und die noch lebenden Angehörigen haben die Verantwortung über das Leben und Sterben von Susanne an einen gesetzlichen Vertreter abgegeben. es ist ein Anwalt, der Susanne nur ein einziges Mal in seinem Leben gesehen hatte. Er sollte entscheiden. PEG-Sonde: ja oder nein? Der Mann sagte ja. Damit war der Auftrag an Jürgen Rost und sein Team klar: „Wir mussten das Leben von Susanne künstlich verlängern.“

Susanne ist kein Einzelfall. Ähnliche Fälle dürften sich in Zukunft häufen. Der Grund reicht laut Jürgen Rost bis in die dunkelste Zeit Deutschlands zurück. Die Nazis hatten eine ganze Generation von Menschen mit Behinderung ausgelöscht. „Daher gab es diese Gruppe lange Zeit nicht in unserer Gesellschaft“, sagt Rost. Doch jetzt – knapp 80 Jahre später Jahre später – sieht es anders aus. Nun stellt sich die Frage: Wie sollen Ärzte, Pfleger, Angehörige und gesetzliche Vertreter mit dem Sterben von behinderten Menschen an deren Lebensende umgehen? Oder wie der Titel einer Diskussion im Rathaus (25. Oktober, 17.30 Uhr) aus Sicht der Behinderten fragt: „Wer begleitet mich, wenn ich sterbe?“

Dilemma für Angehörige und Pflegekräfte

Die einfachste Antwort wäre: die Angehörigen. Doch gerade diese Menschen haben keine Familie oder Freunde. Ihre Familien sind in der Regel die Pflegekräfte. Sie kennen ihre Patienten, haben Bindungen aufgebaut und können so wahrscheinlich am besten erahnen, was der Schwerstkranke gewünscht hätte. Doch alleine ihnen im Verbund mit den Ärzten die Entscheidungen über Leben und Tod zu überlassen, scheint abwegig. „Aber auch die gesetzlichen Vertreter kommen immer wieder in dieses Dilemma“, sagt Rost und fordert deshalb dringend einen öffentlichen Diskurs: „So eine Diskussion wird zwar keine Lösung bringen, aber wir könnten so eine gesellschaftliche Haltung entwickeln.“

Damit begibt er sich wohlwissend auf dünnes Eis. Euthanasie ist ein Tabuthema. Die Nazi-Gräuel machen eine unbelastete Diskussion auch heute noch unmöglich. Zu schrecklich sind die Bilder und Geschichten über die Ermordung von behinderten Menschen, deren Existenz im Dritten Reich für nicht lebenswert erachtet wurde. Dennoch nimmt sich Jürgen Rost das Recht heraus, laut über das Thema nachzudenken. „Aufgrund meines Berufes weiß ich, wie sehr Menschen mit Behinderung die Gesellschaft bereichern. Aber inzwischen müssen wir auch wieder darüber diskutieren dürfen, wann ein Leben nicht mehr lebenswert ist.“ Auf der Podiumsdiskussion will er das unerschrocken tun.

Wer Susanne täglich in ihrem engen Rollstuhl leiden sieht, wird verstehen, was der Caritas-Heimleiter meint. Ihre Augen sprechen eine deutliche Sprache.