Der Tübinger Sportwissenschaftler Helmut Digel über den Werteverfall Olympischer Spiele und die Nöte des Spitzensports im Land.  

Doping, Korruption, Wettmanipulation, gierige Funktionäre. Der Spitzensport und  die Olympischen Spiele stecken in einer Sinnkrise. Wie sind die Probleme zu lösen?

Stuttgart - Herr Digel, Bundespräsident Gauck verzichtet auf einen Besuch der Olympischen Winterspiele in Russland. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Ich halte diese Entscheidung für angemessen. Denn ein Besuch hätte zu einer Aufwertung der problematischen Olympischen Spiele von Sotschi geführt. Wissenswert wäre allerdings, wie der Bundespräsident seine Entscheidung öffentlich begründet.

Westlichen Zivilgesellschaften den Nutzen Olympischer Spiele zu erklären fällt zunehmend schwer. Was läuft da schief?

Der Entscheidungsprozess über die Vergabe Olympischer Spiele ist zu wenig transparent. Das Bewerbungsverfahren ist für die Bewerberstädte zu teuer, und unter Kosten- und Nutzengesichtspunkten haben sich die Risiken für die Bewerber erheblich erhöht.

Warum haben sich die Bürger in München und Umgebung so eindeutig gegen eine Bewerbung für Olympia entschieden?

Ich bedaure diese Entscheidung. Die bayrische Bewerbung zeichnete sich durch höchste Qualität aus, und unter Kostengesichtspunkten hätten sich diese Winterspiele in vielerlei Hinsicht gelohnt. Das Konzept war nachhaltig und hätte gewiss keine „weißen Elefanten“ hinterlassen. Die Sportorganisationen waren sich jedoch zu selbstsicher, die Kommunikation über den Sinn der Spiele ist nicht gelungen. Man hatte auch die falschen Repräsentanten ausgewählt.

Hat der kommerzialisierte Spitzensport grundsätzlich ein Problem, ethisch und moralisch glaubwürdig zu bleiben?

Dies ist in der Tat der Fall. Korruption, Dopingbetrug, Wettmanipulationen und fragwürdige Formen der Bereicherung haben für viele Bürgerinnen und Bürger den Sport unglaubwürdig gemacht.

Welche Rolle spielt dabei das Dopingproblem?

Das Dopingproblem spielt dabei eine zentrale Rolle. Aus Sicht der Bevölkerung ist der Anti-Doping-Kampf nicht glaubwürdig, die Organisationen des Sports haben sich längst mit dem Dopingbetrug arrangiert.

Sie sind seit vielen Jahren ein Verfechter eines Anti-Doping-Gesetzes. Jetzt hat sich auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) dafür ausgesprochen. Warum hat das so lange gedauert?

Im deutschen Sport Überzeugungsarbeit zu leisten ist ein schwieriges Geschäft. Es hilft dabei nur der Druck von außen. Genau das ist nun mit der politischen Gesetzesinitiative, insbesondere des Justizministeriums von Baden-Württemberg, eingetreten.

Der deutsche Spitzensport wirkt in struktureller, personeller, wirtschaftlicher und inhaltlicher Hinsicht reformbedürftig. Wo würden Sie als Erstes anpacken?

Eine personelle Reform benötigt Zeit. Kurzfristig muss die Förderung der Kaderathleten und jener Trainer, die sich im täglichen Training mit Kaderathleten befinden, effektiver und effizienter werden. Hierzu bedarf es einer direkten Steuerung der sportlichen Leistungsentwicklung, es sind aber auch Controlling-Instrumente vonnöten, die für viele Fachverbände heute noch etwas Fremdes darstellen.

Alfons Hörmann hat beim DOSB die Nachfolge von Thomas Bach im Präsidentenamt angetreten. Was erhoffen Sie sich von dem Unternehmer aus dem Allgäu?

Angesichts der vielen ungelösten Probleme bedarf es einer sachlichen Führung, die integrative Wirkung zeigt. Hierzu ist Herr Hörmann definitiv befähigt, sein Führungsstil könnte dem deutschen Sport eine Denkpause ermöglichen, die er dringend benötigt.

Bisweilen entsteht der Eindruck, Spitzensport in Deutschland besteht nur noch aus Profi-Fußball. Warum sind die olympischen Sportarten derart ins Hintertreffen geraten?

Einige olympische Sportarten sind vor allem deshalb ins Hintertreffen geraten, weil sie die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt haben. Ihre Abhängigkeit vom Internationalen Olympischen Komitee ist teilweise erschreckend. Dabei haben sie den Bezug zu den jüngeren Generationen immer mehr verloren, ihr Unterhaltungswert hat erheblich abgenommen. Die Dominanz des Fußballs spielt dabei ohne Zweifel eine sehr wichtige Rolle. Der Fußball dominiert den Schulsport, er dominiert die Programmstruktur des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, und er dominiert den Sponsoring- und Zuschauermarkt. Der Fußball erfasst alle gesellschaftlichen Schichten, er begleitet die deutsche Gesellschaft sieben Tage die Woche, und mit wenigen Ausnahmen werden die olympischen Sportarten dabei zu Randsportarten degradiert.

In Thomas Bach führt nun ein Deutscher das Internationale Olympische Komitee (IOC). Hat er die Kraft und die Macht zur Führung?

Thomas Bach hat ohne Zweifel die Fähigkeiten, um den Herausforderungen der olympischen Bewegung gewachsen zu sein. Er hat dabei ein schweres Erbe übernommen. Das IOC hatte mit den Spielen von Peking und London außergewöhnliche Erfolge aufzuweisen, die Vermarktung und die Fernseh-Einschaltquoten haben ein Maximum erreicht. Nun wird es darum gehen, die Spiele in ihrer Qualität zu verbessern, um das erreichte Niveau zu erhalten. Hierzu müssen einige Pfründe abgebaut werden, unangenehme Entscheidungen sind zu treffen, und vor allem hat sich das IOC im Anti-Doping-Kampf zu bewähren.

Die Situation im Sport in Baden-Württemberg ist nicht zufriedenstellend. Der Nachwuchsbereich funktioniert ordentlich, bei den Aktiven sind internationale Topleistungen eher die Ausnahme. Wie ist dieser Bruch zu erklären?

Erfolge sind auch für den baden-württembergischen Spitzensport möglich. Dies gilt vor allem für die Landeshauptstadt Stuttgart. Hierzu wären aber völlig neue Formen der Kooperation mit der Wirtschaft vonnöten. Die Initiativen müssten dabei vom organisierten Sport ausgehen.

Ist die Aufteilung der Sportorganisation in drei Sportbünde und den Landessportverband Baden-Württemberg effizient genug, um den Erfordernissen der Zeit gerecht zu werden?

Die organisatorische Verfasstheit des baden-württembergischen Sports ist nicht zu akzeptieren. Dass es nach wie vor drei Landessportbünde gibt, kann unter fachlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten niemand begründen. Der Dachverband LSV leidet unter Zuständigkeits- und Kompetenzmangel. Er unterliegt einem parteipolitischen Kalkül, das der Sache des Sports schadet. Was erwarten Sie von Olympia in Sotschi? Unsere Olympiamannschaft wird, ähnlich wie in Vancouver, sehr erfolgreich sein. Sie wird sich mit den besten drei Nationen der Welt messen. Es wird herausragende sportliche Leistungen geben. Die Spiele werden aber auch mit dem Makel behaftet sein, dass sie an einem Ort stattfinden, wo die Winterspiele eigentlich nicht hingehören.