In Münster fühlt sich Anneliese Siegle heimisch. Foto: Achim Zweygarth

„Münster ist wie ein kleines Dorf“, sagt Anneliese Siegle – und erinnert sich an die Zeiten, in denen das Vieh durch die Straßen getrieben wurde und von der Zuckerfabrik ein süßlicher Duft herüberzog.

Münster - Als Anneliese Siegle 1959 als junges Mädchen mit ihren Eltern nach Münster zog, wollte sie am liebsten sofort wieder weg. Zurück dorthin, wo sie aufgewachsen war, zurück in das kleine Dörfchen Eningen, am Rande der Schwäbischen Alb. „Wenn ich erwachsen bin, bleibe ich keine Minute länger hier, habe ich immer gesagt“, erinnert sie sich und lacht. Über ihre Startschwierigkeiten ist sie heute sichtlich amüsiert. Denn lange hat es nicht gedauert, bis sie sich von Eningen, ihrem „Himmel auf Erden“, endgültig losgesagt hatte und Münster ihre neue Heimat geworden ist. Wenn sie heute durch den Bezirk läuft, muss sie immer wieder inne halten, um zu grüßen oder um Schwätzchen zu halten. „Münster ist wie ein kleines Dorf, jeder kennt hier jeden. Ach, und den kenne ich auch“, sagt sie und hebt erneut die Hand zum Gruß. Wegzuziehen kann sie sich nicht mehr vorstellen: „Hier ist es grün, der Neckar liegt direkt vor der Haustür, und die Stadt ist nicht weit entfernt.“

Noch heute wohnt Anneliese Siegle zusammen mit ihrem Mann im Haus ihrer Eltern. Das Haus steht in Neumünster, dem Teil, der nach dem Zweiten Weltkrieg komplett wieder aufgebaut werden musste. „Münster war fast völlig zerstört, vor allem wegen des Viadukts wurden viele Bomben abgeworfen“, sagt sie. Auch das Haus, in dem sie wohnt, war durch eine Brandbombe zerstört worden. Die erste Frau ihres Vaters ist dabei ums Leben gekommen.

Papageien schreien

Ein kleiner Park verbindet die beiden Teile Neu- und Altmünster. „An manchen Tagen hört man hier die Papageien schreien“, sagt Anneliese Siegle. Vor Jahren sind die Vögel aus der Wilhelma ausgebüchst. Sie mag das bisschen Exotik im eigentlich so urschwäbischen Bezirk.

Sonst ist es sehr ruhig in Münster. Kaum ein Auto fährt an diesem brütend heißen Tag durch die Straßen. Anneliese Siegle kann sich noch gut erinnern an die Zeiten, an denen noch gar kein Auto hier vorbei kam. Da sind die Bauern mit ihrem Vieh durch die Straßen marschiert. Wie Bauer Burckhardt mit seinem alten Gaul Max. Er war am Ende der letzte Landwirt im Stadtbezirk. Sie wirft einen Blick in seinen einstigen Hof, wo früher die Landmaschinen standen; heute erinnert daran kaum noch etwas. Die meisten Bauernhäuser wurden im Laufe der Zeit um- und ausgebaut. Zwei Winzer gebe es noch in Münster. „Dort oben wird der Wein angebaut“, sagt sie und zeigt auf den Schnarrenberg. Früher sei sie oft mit den Hunden hoch gewandert, durch die Weinberge und über die Treppen. Tolle Spaziergänge könne man dort machen.

In Altmünster führt eine Straße aus Kopfsteinpflaster hoch zu einem kleinen Platz, auf dem zwei Brunnen stehen. „Einer davon ist der Gewürzbrunnen, der hat früher ganz Altmünster mit Wasser versorgt“, sagt sie und überlegt, welcher von beiden das noch mal war. Dann stemmt sie ihre Hände in die Hüften und schreit: „Conny!“ Eine Dame, Conny wahrscheinlich, streckt ihren Kopf aus dem Fenster des Hauses, das direkt am Platz steht: „Ja?“ Nach kurzem Wortwechsel deutet Conny auf den äußeren Brunnen. „Hier kennt man sich halt“, wiederholt Anneliese Siegle fast entschuldigend und lacht wieder ihr herzhaftes Lachen, bei dem sie über beide Backen strahlt.

„Ein eigener Schlag“

Ihren Humor setzt sie seit Jahren als Schauspielerin beim Münsterer Theater Boulevärle ein. Wahrscheinlich hat ihre fröhliche Art auch ihren Teil dazu bei getragen, so schnell im Bezirk aufgenommen zu werden. Das nämlich, sagt sie, sei damals gar nicht selbstverständlich gewesen: „Die Münsterer sind schon ein eigener Schlag.“ Nach Hofen heiraten war beinahe skandalös, und wollte man dem Sportverein beitreten, war es besser, jemanden zu kennen, der dort schon Mitglied war. Das sei aber anders geworden. „Offener“, sagt sie. Es gebe heute ja auch mehr Zugezogene, „das ist halt jetzt Multi-Kulti hier.“

Die meisten Veränderungen in ihrem Bezirk sieht sie gelassen. Dass es nur noch wenig Einzelhandel gibt, dass von fünf Metzgern nur noch einer übrig geblieben ist, zum Beispiel. „Klar ist das schade“, sagt sie, aber sie weiß: „So ist es halt, das verändert sich alles, das verstehe ich schon.“ Aber dass es keine richtige Wirtschaft mehr im Ort gibt, das vermisst Anneliese Siegle dann doch ein bisschen. „Früher gab es noch den ‚Hasen’, wo man gepflegt essen gehen konnte“, sagt sie und schwärmt vom Rostbraten mit den handgeschabten Spätzle vom Mariele. Die meisten Lokale seien verwaist. Oft hängen noch die Schilder draußen, auch wenn drinnen schon lange kein Gast mehr sitzt.

Außerdem vermisse sie den süßen Duft, der manchmal in der Luft lag, wenn der Wind gut stand. Der kam von der Zuckerfabrik, die es in Münster gab. Die Bauern standen dann mit ihren Anhängern vor den Toren, um ihre Zuckerrüben abzuliefern. „Als Kinder sind wir drum herum gesprungen und haben gehofft, dass eine Rübe vom Wagen fällt“, sagt sie. Nachdem die Landwirtschaft weggebrochen war, gab es in Münster vor allem viel Industrie: „Hier sind immer die Männer mit ihren Aktentaschen oder die Arbeiter in ihrer blauen Kleidung herum gelaufen.“ Jetzt gibt es noch die Müllverbrennungsanlage, der Duft liege auch manchmal in der Luft, „wenn der Wind schlecht steht“, sagt sie, während sie an alten Travertinhäusern vorbei läuft. Die Stile mischen sich in Münster. Da gibt es die Neubauten, Mehrfamilienhäuser, viel Fachwerk im alten Teil des Bezirks und eben die außergewöhnlichen Villen aus Travertin. „Ja sicher“, sagt Anneliese Siegle, „natürlich gibt es hier nicht so viel Besonderes. Aber ich mag es.“ Deshalb hofft sie, dass sie noch lange dort bleiben darf, in ihrer Heimat.