Stolz zeigt Gerhard Föll die Tafel mit den Bauherren von damals. Foto: Achim Zweygarth

Gerhard Föll ist der einzige Sohn einer Wangener Weingärtnerfamilie. Den Weinberg bewirtschaftet er aber nur noch in seiner Freizeit.

Wangen - Nach dem Studium ist er ein halbes Jahr mit dem Rucksack durch Südamerika gereist. Eine spannende Zeit, an die sich Gerhard Föll gerne erinnert. Doch während es einige seiner Freunde in fremde Städte oder Länder zog, kehrte der einzige Sohn eines Wengerters nach der kurzen Auszeit an seinen Geburtsort zurück. Bereut hat er diese Entscheidung nie. „Ich lebe hier gut mit dem Kompromiss aus Stadtnähe und dörflichem Charakter“, sagt der Wangener.

Heute ist Gerhard Föll einer der letzten Wengerter im Flecken. Acht sind es noch insgesamt, die meisten längst im Rentenalter. Im Herbst setzen sie in der Kelter gemeinsam die Maische an, pressen ihre Trauben und produzieren rund 10 000 Liter Trollinger. Die Kelter selbst gehört der Stadt, auch die Weinpresse und alle anderen Gerätschaften sind öffentliches Eigentum. „Solange es noch einen Weingärtner in Wangen gibt, muss die Kelter erhalten bleiben“, sagt der 57-Jährige. Dazu habe sich die Stadt bei der Eingemeindung des Bezirks verpflichtet.

„Früher wurde an sämtlichen Süd-Ost-Hängen Wein angebaut“, erzählt der Vater von zwei Söhnen. Die Kelter stammt aus dem Jahr 1713. Stolz zeigt Föll die Tafel mit den Bauherren von damals. Die Namen alter Wangener Wengerterfamilien stehen darauf. Namen wie Gugeler, so habe auch in seiner Jugend noch der Keltermeister geheißen, erzählt der Winzer.

Der Weg in die Industrie

Doch genau wie diese alte Tafel ist auch der Weinanbau selbst heute ein Stück Geschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts siedelte sich Daimler am gegenüberliegenden Neckarufer in Untertürkheim an. Bessere Verdienstmöglichkeiten lockten viele Wengerter vom Berg in die Industrie. Auch Föll hat diese Entscheidung viele Jahre später für sich getroffen. Während der Vater noch hauptberuflich Wengerter war, bewirtschaftet der Sohn den Weinberg in seiner Freizeit. Der Maschinenbauingenieur verdient sein Geld beim Daimler.

Der Automobilhersteller genießt einen guten Ruf. „Das sind unsere Arbeitsplätze“, sagt Föll. Mit einer anderen Industriestätte weiter oben am Fluss sind die Wangener hingegen nie wirklich warm geworden. Der Stuttgarter Hafen liegt zur Hälfte auf Wangener Gemarkung. Bevor er in den 1950er Jahren gebaut wurde, zogen sich Äcker und Wiesen am Ufer des Neckars entlang. Doch mit dem Bau des Hafens mussten die Bauern ihr Land an die Stadt verkaufen. Ein schmerzlicher Verlust, den der Bezirk bis heute nicht ganz verwunden hat.

Ein noch größerer Störenfried ist für Föll jedoch die Bundesstraße B 10 – und das nicht nur wegen ihrer Lautstärke. „Die B 10 trennt uns vom Neckar“, sagt der 57-Jährige, der für die Grünen im Bezirksbeirat sitzt und sich eine Überdeckelung der Straße wünscht. Föll: „Das wäre mein Traum, dann hätten wir wieder Luft zum Atmen.“ An eine Realisierung dieses Traums glaubt er aber nicht. Bei der Verteilung der öffentlichen Gelder habe der Bezirk selten Priorität. „Wangen liegt auch vom Buchstaben her am Ende“, spottet der Hobby-Winzer.

Erholungsgebiet vor der Tür

Aber zum Glück besteht der Stadtbezirk nicht nur aus Hafen und B 10. Die Wangener genießen einen Luxus, um den andere Städter sie beneiden können: Sie haben ihr eigenes Erholungsgebiet vor der Tür, den Wangener Berg. Dort oben zwischen Weinmauern, Gärten und Wandelwegen, schmalen Trampelpfaden, die sich kreuz und quer den Berg hochziehen, sind Industrie- und Autoabgase schnell vergessen.

Mühelos und mit großen Schritten steigt Föll den steilen Berg hinauf. Die Sandalen an den Füßen, die kurze Hose, das karierte Hemd und der Rucksack auf dem Rücken – so schwer man sich den 57-Jährigen in einem klimatisierten Büro vorstellen kann, so gut passt er hierhin. Sofort kommen ihm unzählige Anekdoten in den Sinn. Wie sie als Kinder mit drei hintereinander gebundenen Schlitten den Berg hinuntergesaust sind oder einige Jahre später in einem voll besetzten VW-Käfer.  

Es ist wie eine Reise in die Vergangenheit – nicht nur in die von Gerhard Föll. Während im Tal nur noch die Kelter an den einstigen Weinort erinnert, ist die Zeit auf dem Berg stehen geblieben. Die Weinberge sind nicht flurbereinigt, die Terrassen mit den uralten Mauern noch erhalten. Schon vor Hunderten von Jahren sind die Wengerter über dieselben Pflastersteine und dieselben Stäffele den Berg hinaufgestiegen. Der Weg ist steil, einige Treppen wirken schier unendlich. Immer wieder führen Wege auf die Wangener Wangen hinaus. Die wellenförmigen Bergkuppen in Richtung Neckartal, denen der Bezirk vermutlich seinen Namen verdankt.

Gemütliches Beisammensein auf dem Berg

Und noch etwas ist bemerkenswert. Während unten im Stadtbezirk Migranten und Schwaben, wie Föll es formuliert, „in zwei getrennten Welten leben“, es gebe keine Probleme, aber auch kaum Berührungspunkte, verbringen sie ihre Freizeit hier oben Gartenzaun an Gartenzaun. Insbesondere viele türkischstämmige Zuwanderer haben sich auf dem Wangener Berg den Traum vom eigenen Garten erfüllt.

Wer sich den kompletten Berg hinaufgekämpft hat, wird mit einem gigantischen Ausblick belohnt. Bei schönem Wetter kann man über den Großmarkt und das Gottlieb-Daimler-Stadion hinweg bis hinaus zum Schwäbischen Wald gucken. Wer irgendwo einkehren möchte, kann zwischen drei Höhengaststätten wählen: dem Neckarblick, der Friedrichsruh und dem Onkel Otto. Drei echte Unikate der Gastronomielandschaft. Letztere hat ihren Namen zum Beispiel einem ehemaligen Radrennfahrer zu verdanken, der die Wengerter abends zum Viertele-Trinken in sein Gartenhäuschen eingeladen hat.