Friseur Heinz Klinger bei einem Cappuccino im Café List Foto: factum/Granville

Kaum einer kennt die Höhen und Tiefen des Stuttgarter Südens besser als der Friseurmeister Heinz Klinger. Er liebt die Ausblicke von Berg zu Berg.

Stuttgart-Süd - Heinz Klinger nippt an seinem Cappuccino und lächelt. „Hier vermischt sich alles“, sagt er. Generationen von Schülern kauften in dem ehemaligen Schreibwarenladen ihre Hefte, vor zwei Jahren eröffnete das Café List. Es ist Klinger schon ans Herz gewachsen. Er mag die Küche, das Ambiente und die Lage in der Liststraße, seiner Lieblingsstraße. „Sie endet jeweils mit Blick ins Grüne, und ich liebe diese wunderschönen alten Häuser.“

Für den Stuttgarter besteht der Süden aus der Welt weit oben, wo er wohnt, den Cappuccino und die Ruhe in seinem Gärtlein genießt – und der dort unten, wo er seit Jahrzehnten einen Friseursalon betreibt und nicht ans Aufhören denkt. Was beide Welten gemein haben, sind die herrlichen Ausblicke. „Stuttgart zwischen Wald und Reben, das hat man im Süden auf engstem Raum.“ Schimmelhüttenweg, Waldheim Heslach oder Karlshöhe: Heinz Klinger liebt das Auf und Ab im Viertel. „Das Tolle am Süden ist die Topografie.“ Die erarbeitet er sich zu Fuß, mit dem Roller oder dem Rad. Per E-Bike? Der 64-Jährige schüttelt den Kopf und lacht, bis die ersten Tränen kullern. Spätestens nach dem strammen Marsch durch die Römerstraße bis zum Haigst ist klar: Der Mann hat Kondition.

Kulinarisches und Kunst, auf diesen Gebieten ist Klinger Experte

Doch zunächst geht es nach unten. Auf dem Weg zum Marienplatz, vom Sonntag in den Alltag sozusagen, blickt Klinger auf die Auslagen der Bäckerei Frank. „Sogar Plieninger kaufen hier ihre Brezeln“, erzählt er. Und wie köstlich seien erst die Schinkenhörnchen! Klinger weiß den Süden zu genießen. Am Fildermarkt hält er erneut. „Haben Sie noch kleine Gebäckstücke?“, fragt er den türkischen Ladeninhaber. Dessen Ehefrau bereitet die salzigen und süßen Stückchen, die neben der Kasse liegen, selbst zu. „Traumhaft“, urteilt Klinger. Vincent Klink sei ebenfalls ein treuer Kunde, er komme immer mit seinem Roller vorbei.

Kulinarisches und Kunst, auf diesen Gebieten ist Klinger Experte. Er schätzt die kleinen wie die großen Werke. Gerade schwärmt er von der japanischen Multimediakünstlerin Mariko Mori, im nächsten Moment zeigt er auf den Kunstraum 34 in der Filderstraße. „Eine tolle Galerie“, sagt er, „der Verein besteht aus sehr engagierten, teils aber auch ganz schön skurrilen Mitgliedern.“ Ein Charakterkopf sei auch der Künstler Hanns-Michael Rupprechter, der die Räume im ersten Stock gemietet habe. Der habe sich einst geweigert, an der Langen Nacht der Museen teilzunehmen. Vor der Veranstaltung wurden alle Autos, die vorm Atelierhaus geparkt waren, abgeschleppt, damit die Busse am Abend halten konnten. Rupprechter filmte das Treiben auf der Straße und präsentierte sein Werk in der Galerie-Nacht einem staunenden Publikum. Klinger strahlt. „Abschleppen als Kunstaktion, so ist der drauf, der Typ!“

Er fühlt sich wohl in diesem Umfeld und kennt sie alle, den Sounddesigner, die Grafiker und natürlich das Team in seinem Hinterhof, das für eine Firma in Norddeutschland Fahrradrahmen entwirft. Immer mehr Kreative suchten Räume im Süden. „Der Westen ist ja schon knackevoll.“ Er selbst hat sein Friseurgeschäft in der Böblinger Straße vor 26 Jahren in einer Autowerkstatt eingerichtet. Waschanlage, Reparaturwerkstatt, Verkaufssalon, die Aufteilung von früher ist noch gut erkennbar. „Und hier,“ – der 64-Jährige presst sein Gesicht gegen die Scheibe von Ramsaier Bodenbeläge – , „das ist meine Treppe!“ 1973 eröffnete er seinen ersten eigenen Salon und investierte 18 000 Mark in das gute Stück aus Edelstahl. „Du bist verrückt, die Räume sind doch nur gemietet“, schimpfte sein Vater, der gegenüber sein Friseurgeschäft hatte. Klinger freut sich noch heute diebisch darüber, dass er sich als 25-Jähriger diesen Luxus gönnte. Damals erwarb er auch sein Haus im Lehenviertel, erbaut vom Stuttgarter Architekten Albert Eitel.

So sehr er den Süden mag, mehr als einmal hat er über einen Umzug nachgedacht. Denn der Bezirk besteht nicht nur aus Villen an den Hängen, wo mit jedem Höhenmeter die Immobilienpreise steigen. Die Böblinger Straße, einst eine Prachtstraße, verfällt. Leerstände und Billigläden sind schlecht fürs Geschäft. „Dieser ständige Parksuchverkehr,“ schimpft Klinger, „da kann ja keine Kaufatmosphäre entstehen.“ Und wenn die Stadtbahn, die die Straße zerschneidet, wenigstens so gemütlich fahren würde wie in Bordeaux, könnten seine Kunden in Ruhe flanieren. „Aber die Bahn jagt durch die Stadt, die Straße kann man auf 300 Metern nicht überqueren.“

Die Umgestaltung des Marienplatzes gefällt dem Friseur

Andererseits ist Klinger krisenerfahren. Als Kind wohnte er mit seinen Eltern in der Möhringer Straße. Die kleine Schweiz wurde die Gegend genannt, wegen der Welle in der Straße und der Ruhe. Als dann 60 000 Autos am Tag über die alte B 14 rauschten, „wurde ein Stadtteil erstickt“. Erst mit der Eröffnung des Heslacher Tunnels konnten die Menschen wieder aufatmen. Dass die Möhringer Straße im Rahmen der Sanierung abgeflacht wurde, stört den Friseur nicht. „Jetzt hat man freie Sicht auf die Matthäuskirche.“ Auch die Umgestaltung des Marienplatzes gefällt ihm. In diesem Jahr blühen die Kastanien dort prächtig. Über den neuen Eissalon regt sich Klinger allerdings ordentlich auf. „Der sieht aus wie eine Konzertmuschel in Baden-Baden.“

Mittags zieht es ihn häufig auf die Karlshöhe. In sieben Minuten ist er oben und nimmt auf einer Parkbank sein Vesper ein. Früher hat er gerne einen Abstecher nach Heslach zur „Kult-Konditorei“ Schurr gemacht. „Führen Sie die Genfer Nusstorte noch?“ Ach, er kennt die Antwort, fragt jedoch regelmäßig nach. Nein, das lohne sich nicht, so die Verkäuferin. „Aber ich war doch ein Großabnehmer!“ Viele Veränderungen hat Klinger im Bezirk erlebt, aber dieser Verlust schmerzt ihn besonders.