Alt-Stadtrat und Heimatforscher Alfred Motzer kennt Stammheim so gut wie kein Zweiter. Foto: Lederer

Keiner kennt den nördlichsten Stadtbezirk Stuttgarts so gut wie der Altstadtrat und Heimatforscher Alfred Motzer. Wer sich für Historie interessiert, sollte ihn im Heimatmuseum besuchen.

Stuttgart-Stammheim - „Erst mal ein Zigarettle“, sagt Alfred Motzer und setzt sich an den Tisch im Heimatmuseum, einem umgebauten ehemaligen Rinderstall. Die Beine, sie machen einfach nicht mehr so mit wie früher. Da tut ein Päuschen im Museum gut. „Ein Viertele oder lieber ein Maibock?“, fragt der 88-Jährige und greift zum Bier. „Den Wein“, sagt er, „können wir später immer noch trinken.“

Seit der Eröffnung 1996 kommt er fast jeden Tag ins Museum und schaut nach dem Rechten. Es war seine Idee, er hat den Heimatverein gegründet, den alten Farrenstall saniert. Vor der Türe stehen rostige Pflugscharen, ein Kartoffelernter, Dreschflegel, Pferdegeschirr und andere landwirtschaftliche Geräte. „Die Leute bringen sie mir vorbei, weil sie wissen, dass ich drauf achtgebe.“ Drinnen hängen Bilder, Urkunden, Flaggen, zeugen Tassen, Münzen und Werkzeuge von einer Zeit, als es in Stammheim noch viele Bauern gab. „Früher, in den 30er Jahren, gab es zwischen den Geschäften in der Freihofstraße noch jede Menge Misthaufen“, erzählt Motzer. Aber auch Schnapsbrenner, Kohlenhändler und Wannenbäder, für ein paar Pfennig konnte man ein heißes Vollbad nehmen.

Alfred Motzer mag die Freihofstraße: „Die Gehwege sind breiter, hier gibt es alles, was ich brauche.“ Wer dennoch in die Stadt will, nimmt die Stadtbahn, den Fünfzehner. Der fährt in 23 Minuten in die Innenstadt und weiter bis nach Heumaden. Motzer befürwortet die Stadtbahn. „Den Gegnern der Bahn sage ich: Werdet erst mal älter, dann fahrt ihr auch lieber Bahn als Bus.“

„Stammheim ist sehr lebenswert“

Alfred Motzer ist Stammheimer von Geburt an. Die Hebamme hat ihm 1924 im Elternhaus an der Kornwestheimer Straße auf die Welt geholfen. Er hat Dreher in Zuffenhausen gelernt und als Soldat Panzergeschütze in Russland gefahren, er hat nach dem Krieg in der Zentralschmiede der Bahn in Kornwestheim gearbeitet und war Personalrat bei der Bahn. Für die Sozialdemokraten hat er sich 28 Jahre im Bezirksbeirat engagiert, 15 Jahre bestimmte er im Gemeinderat mit. 45 Jahre lang war er Schöffe und Arbeitsrichter.

Sein Urteil über Stammheim ist positiv: „Viele Leute verbinden mit dem Ort nur das Gefängnis. Aber Stammheim ist sehr lebenswert – wir haben ein reges Vereinsleben, viel Grün und freies Feld, es gibt viele Kleingärten, Äcker und Wiesen.“

Seine liebsten Spaziergänge macht er im Wald am Emerholz, was auch schon mal auf Möglinger Gemarkung sein kann, aber so eng sieht Motzer das nicht. Ebenso gern streift er durch die Streuobstwiesen der Winterhalde, gleich hinter der Schule, „wenn es die Füße mitmachen“. Motzer selbst hat nicht alles mitgemacht. Hinter dem Wald am Emerholz wollte Stuttgarts Oberbürgermeister Arnulf Klett in den 70er Jahren eine Landebahn für Sport- und Privatflugzeuge bauen lassen, und wo die Streuobstwiesen sind, sollte zu Manfred Rommels Zeiten ein großer Friedhof hin. „Wir haben uns gegen beides mit Erfolg gewehrt“, sagt Motzer.

Dass die Justizvollzugsanstalt 1959 bis 1963 gebaut wurde, ließ sich hingegen nicht verhindern. „Das Gelände war bereits Ende der 30er Jahre im Besitz des Landes, und ein Gefängnis war geplant“, sagt Motzer. „Ich bin froh, dass es mit dem Bau damals nicht gleich geklappt hat, sonst wäre es bestimmt ein KZ geworden.“

Angefreundet hat er sich mit dem Gefängnis nie. Besonders schlimm war es in den 70ern zur RAF-Zeit: „Ständig wurde jeder kontrolliert. Die Landwirte hat man ohne Ausweis nicht auf ihre Felder gelassen, wenn ihn einer vergessen hatte, musste er wieder umdrehen.“ Bei einer Weihnachtsfeier seines SPD-Ortsvereins hätten die Kinder den Nikolaus erwartet. „Stattdessen kamen Polizisten mit der Maschinenpistole im Anschlag herein – die Stimmung war im Keller.“ Also gar nichts Positives in Verbindung mit der JVA? „Doch“, sagt Motzer trocken: „Die berittene Polizei. Wenn die morgens an meinem Fenster vorbeigeritten sind, war ich wach. Da konnte ich mir den Wecker sparen.“

Dass die JVA in den nächsten Jahren erweitert und fünf neue Haftgebäude gebaut werden sollen, schmeckt Motzer nicht. „Da gehen weitere Grünflächen verloren. Und es ärgert mich, dass es keine eigene Zufahrt zwischen Bundesstraße und JVA gibt, die den Verkehr durch den Ort reduziert.“

Alfred Motzer hat schon viel gesehen in seinem bewegten Leben

Dass das geschichtsträchtige JVA-Hochhaus abgerissen werden soll? Für Motzer kein Thema: „Es gibt schönere Gebäude in Stammheim als das Gefängnis.“ Etwa die Johanneskirche mit ihren spätgotischen Merkmalen und dem Chor von 1487, und das 1579 von Heinrich Schickhardt erbaute Schloss. Zwischenzeitlich waren Schnapsbrenner und Glasbläser dort, heute beherbergt es ein Altenheim der Evangelischen Heimstiftung. „Da gehe ich oft hin, aber nur, um jemanden zu besuchen“, sagt der Senior.

Er selbst bleibt lieber in der Kornwestheimer Straße 52 wohnen. Überhaupt lebe es sich gut in Stammheim. Das soll auch jungen Familien zugutekommen. Im Gewann Langenäcker-Wiesert sind 300 neue Wohnungen geplant. Dass deswegen Gärten und Wiesen wegfallen, sei nicht schön, der Wunsch nach Wohnraum ist für Motzer aber nachvollziehbar: „Es gab in den vergangenen 50 Jahren schon viele verschiedene Pläne, viel größere. Wenn die alle umgesetzt worden wären, dann hätte Stammheim nicht 12 000 Einwohner, sondern 23 000.“ So kann man es auch sehen.

Alfred Motzer hat schon viel gesehen in seinem bewegten Leben. Er kennt den Deutschen Herbst und er kennt den russischen Winter. Am liebsten aber ist ihm der Stammheimer Frühling.