Soheila Hosseini arbeitet in der Stadtbibliothek Ost. Foto: Heinz Heiss

Der Osten ist ein großer Bezirk. Oben wird eher residiert, unten mehr gelebt. Die Deutsch-Iranerin Soheila Hosseini leistet Bildungsarbeit an der Basis.

S-Ost - Ein Stadtbezirk muss alles haben, so wie eine Landschaft nicht nur aus englischem Rasen bestehen kann, sondern auch aus wilden Blumen und Sträuchern“, sagt Soheila Hosseini. Der Stuttgarter Osten hat all das und viel mehr. Grob lässt er sich in zwei Welten teilen. Um im Bild zu bleiben: unten ist er eher wild, oben auf den Halbhöhen sehr gepflegt.

Soheila Hosseini, 48, wohnt und arbeitet unten. Seit 17 Jahren lebt sie im Osten, kurz nach der iranischen Revolution ist sie 1981 von Teheran nach Deutschland gekommen und hat nach der Ausbildung zur Informatikkauffrau noch eine weitere gemacht. Seit einigen Jahren ist sie mit Begeisterung im Einsatz: als Fachassistentin für Medien- und Informationsdienste in der städtischen Bibliothek des Ostens, der schönsten, wie sie sagt. Und: „Wir sind die Augen und Ohren des Stadtteils.“ In der Eduard-Pfeiffer-Bibliothek, wie sie nach dem Sozialreformer benannt ist, treffe sich alles. „Der Dr. wie auch der von und zu“ – aber ebenso eine Klientel jenseits des Bildungsbürgertums mit hohem Anteil an Migranten. Das Angebot reicht von Nachhilfestunden auf Türkisch über Computerspieltreffen und Vorlesepaten für die Kids bis zu Internetkursen für Senioren. „Manche sind den ganzen Tag da“, sagt Hosseini.

Viele gehen in die City einkaufen

Wir ziehen los von der Schönbühlstraße unweit des Ostendplatzes. Hosseini bedauert, dass sich in der Gegend nicht alle Läden halten könnten, weil es viele Bewohner zum Einkaufen in die City zieht. Mit einem „Oh Gott, ist das trist hier“ versetzt sie sich in einen Neuankömmling hinein – nicht ohne hinzuzufügen: „Aber dann muss man nur in eine Nebenstraße gehen, und schon sieht die Welt ganz anders aus.“ 

Tatsächlich finden sich im Osten viele alte Häuser, die vom Krieg verschont wurden. „Ich bin ein Erkerfan“, sagt Hosseini und zeigt auf einen, „dabei kannte ich lange nicht das Wort dafür.“ Auch im vermeintlichen sozialen Brennpunkt Raitelsberg gibt es schöne Häuser und Hinterhöfe. Arme Leute? Vielleicht ist es besser, von weniger gebildeten zu sprechen. „Viele Kinder glauben nur, dass sie perspektivlos seien“, sagt Hosseini, die sich mehr Angebote für die Jugendlichen wünscht, damit sie nicht nur abhängen und Wodka trinken. „Aber es gibt auch Abiturienten mit Abschlussnote 1,9 hier“, sagt sie. Jetzt betreten wir den Park der Villa Berg. Sie gerät ins Schwärmen. Viele Tage habe sie hier mit ihren Kindern verbracht. Es sind fünf an der Zahl, der älteste Sohn ist 25 und studiert, die Jüngsten sind 14 und 17 und leben noch zu Hause. „Wozu muss man da nach Italien oder Spanien?“, fragt die Mutter und lässt den Blick über die Idylle schweifen. Nur die Aussicht auf die brachliegende Villa betrübt. Als sie vor Jahren angeblich für den symbolischen Preis von einem Euro zum Verkauf stand, habe sie mit dem Gedanken gespielt zuzuschlagen, erzählt die Deutsch-Iranerin.

Zwischen Ruhe und Lärm

Wir verlassen den Park und stehen an der Hackstraße. Hier wird eines der großen Probleme im Osten deutlich: der Verkehr. „Es dauert hier lange, bis es grün wird“, sagt Hosseini. Aber auf der anderen Seite sind wir wieder an einem Platz der Ruhe, dem Bergfriedhof. Wie es die Tradition verlangt, hält die Muslima kurz inne mit „Wir grüßen euch, die ihr Gefangene der Erde seid“ und einem Gebet. Ihr Kopftuch habe nie Probleme bereitet, sagt sie. Es komme eben darauf an, wie offen man auf die Menschen zugehe. Seit 2010 hat sie einen deutschen Pass. „Ist das nicht schön, wie viel Freiheit man hier hat?“, hat sie schon im Park über eine Frau im Bikini gesagt.

Auf unserem weiteren Weg kommen wir zwar nicht zum geografischen, aber doch zum Höhepunkt des Ostens: der Kolonie Ostheim, einer von vielen im Stadtbezirk wie etwa noch der Gasarbeiter- oder der Straßenbahnersiedlung. Die Kolonie Ostheim aber ist mit ihren 383 Häusern die größte und steht als „städtebauliche Gesamtanlage“ unter Denkmalschutz. Sie geht zurück auf den Banker und Sozialreformer Eduard Pfeiffer, dem ersten jüdischen Ehrenbürger der Stadt, und seinen 1866 gegründeten „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“, heute der Bau- und Wohnungsverein Stuttgart. Die Siedlung entstand zwischen 1891 und 1903, mit ihr die Lukaskirche im neugotischen Stil. Bezahlbarer Wohnraum und bessere hygienische Verhältnisse waren die Themen der Zeit, in der auch ein Ratenkaufsystem für ärmere Familien eingeführt wurde. In der Neuffenstraße leuchten Hosseinis Augen: „Wie im Orient: verzierte Fassaden und dahinter ein kleines Paradies – genial!“ Denn zum Konzept gehören auch Mietergärten im Innenbereich der Baublöcke, die Oasen mitten in der Stadt sind.

„Im Osten gibt es alles, was man braucht“

Die letzte Etappe führt auf die Halbhöhe. Mit jedem Schritt werden die Häuser stattlicher – „sei gegönnt“, sagt Hosseini. Hier ist die Hochburg der Anthroposophen, die zahlreiche Einrichtungen unterhalten und ihr Zentrum an der Uhlandshöhe haben, unter anderen mit dem Rudolf-Steiner-Haus, dem Eurythmeum und der Freien Waldorfschule. Oft ist Hosseini hinaufspaziert, nicht zuletzt wegen des Minigolfplatzes und der Kinder. Auf der Wiese hinterm Wasserwerk schauen wir hinunter auf den Osten und hinüber zur Villa, wo Robert Bosch bis zu seinem Tode lebte. Hier schließt sich der Kreis – denn auch er war wie der unten wohnende Eduard Pfeiffer ein großer Sozialreformer. Und wie in der Stadtteilbibliothek wird bei der Robert-Bosch-Stiftung Bildungsarbeit geleistet – von der Basis zur Spitze.

„Im Osten gibt es alles, was man braucht“, sagt Soheila Hosseini im Allgemeinen und zur Bildungslage im Besonderen: „Eigentlich müsste niemand sagen: ,Ich konnte und ich durfte nicht.‘“ 

Chronik

12.Jahrhundert: Berg und Gaisburg sind erstmals erwähnt.

1275: taucht Gablenberg als Ausbauweiler von Berg in den Urkunden auf.

1447: Die schon während der Römerzeit besiedelte Gänsheide geht auf den erwähnten Begriff Gennswaidheide zurück. Erste große Villa der Neuzeit ist Hackländers Haidehaus (1847).

1530: Die „Unserer lieben Frau“ gewidmete Hirtenkapelle, die dem Frauenkopf ihren Namen gab, wird während der Reformation zerstört.

1853: Die Villa Berg wird als Sommersitz für den Kronprinzen und späteren König Karl erbaut.

1856: Das Mineralbad Berg wird vom königlichen Hofgärtner Friedrich Neuner als „Bad am Königlichen Park“ eröffnet.

1910: Die Baronin Helene von Reitzenstein lässt die gleichnamige Villa erbauen, die seit 1922 in Landesbesitz und heute Regierungssitz ist.

1919: Als erste ihrer Art wird die Freie Waldorfschule Uhlandshöhe eröffnet.

1928: Das 100 Meter hohe Wahrzeichen des Ostens entsteht: der Gaskessel von Gaisburg.

1956: Der Stadtbezirk Stuttgart-Ost, der seit 2001 acht Stadtteile hat, wird gebildet.

1966: Auf der Waldebene Ost wird der 93 Meter hohe Stuttgarter Funkturm errichtet.

1985:Der Stuttgarter Künstler Otto Herbert Hajek gestaltet das Mineralbad Leuze.