Obertürkheim ist voller Geschichten Foto: Achim Zweygarth

Obertürkheim hat sich stark gewandelt in den vergangenen Jahrzehnten. Wo früher alte Häuser standen, wurde abgerissen und neu gebaut. Manche sehen das als Einzug der Moderne. Willi Schraffenberger nicht.

Stuttgart - In Obertürkheim ist Willi Schraffenberger bekannt wie ein bunter Hund. Bunt, das heißt zum einen grün, weil er für die Partei der Grünen in den 80er Jahren in den Bezirksbeirat gezogen und die Welt zumindest in diesem Teil von Stuttgart ein wenig aufgemischt hat. Und bunt bedeutet in seinem Fall auch rot, weil der kämpferische Saarländer für manche auch heute noch ein rotes Tuch ist. „Wenn ich durch den Ort laufe, brauche ich schon beinahe Personenschutz“, witzelt der 62-Jährige.

Das liegt an der Sicht, die er auf seine Wahlheimat hat. Denn Willi Schraffenberger hat die Vergangenheit vor Augen. Er sieht noch die alte Straßenbahn, die durch Obertürkheim fuhr, die alte gelbe Telefonzelle vor dem ehemaligen Postgebäude. Beides ist längst weg, genauso wie der alte Ortskern. 1986 kam die große Sanierung. Das hieß damals: Abriss und Neubau. Schraffenberger schüttelt den Kopf: „Ich habe eine andere Vorstellung von Heimat und bin erschüttert zu sehen, wie egal denen die Umgebung ist.“ Denen, das sind die Verantwortlichen, die seit dem Krieg das Gesicht des Stuttgarter Bezirks am Neckar verändert haben. Für Willi Schraffenberger ist klar: „Stadtplanung ist die Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln.“

„Das ist Augenwischerei“

Und das will der Mann mit Brille und Schiebermütze verhindern. Damals, in den 80er Jahren, hat er die Kastanien, die bei der Ortskernsanierung gefällt werden sollten, mit Bettlaken behängt, damit sie stehen bleiben. Die alte Mühle hat er vor der Abrissbirne gerettet. Als einziges Gebäude. „Und jetzt ist sie das schönste Haus im Ortskern“, meint Schraffenberger. Man hätte so viel erhalten können. Er deutet auf ein Schild, auf dem „Obertürkheimer Markt“ steht. „Das ist Augenwischerei. Hier findet kein Markt statt, hier ist nur ein Parkplatz.“ Das sitzt.

Sein Ort ist voll von solchen Geschichten. Zu fast jedem Gebäude könnte dieser Mann etwas sagen. Er will immer wissen, was früher war, was heute ist und was noch in Zukunft kommen soll: „Da muss man gewappnet sein.“ Ein paar Schritte weiter deutet er auf das nächste Beispiel: die Villa Kayser. Die ließ ein wohlhabender Holzhändler 1907 im Jugendstil erbauen. Sein Nachfahre Eugen Kayser lernte Robert Bosch kennen und brachte ihn mit nach Obertürkheim in die Villa. Dort traf er Anna Kayser – und heiratete sie später. Wie das Haus in städtischen Besitz kam, erzählt Schraffenberger an diesem Vormittag nicht: „Das ist eine andere, lange Geschichte“, meint er. Nur vom Ende berichtet er: Denn als der resolute Lokalpolitiker in den 80ern mitbekam, dass die Stadt Stuttgart die Villa verkaufen wollte, regte sich bei ihm wieder der Widerstand: „Das ist ein Kulturdenkmal und muss öffentlich zugänglich sein.“ Doch es half nichts. Die Villa Kayser ist heute in Privatbesitz.

Immer wieder schüttelt Willi Schraffenberger den Kopf: „Das kann doch nicht wahr sein.“ Ist es aber. Resigniert hat der Fotokünstler, gelernte Grubenelektriker und studierte Erziehungswissenschaftler allerdings nicht. Im Gegenteil. Wenn sich etwas in Obertürkheim verändern soll, tritt Schraffenberger auf den Plan.

Kampf gegen die Verkaufspläne

So beispielsweise auch im Ortsteil Uhlbach, in dem Schraffenberger wohnt. „Die wollten sogar das Rathaus von 1612 verkaufen“, erzählt er. Doch nicht mit ihm. Im Jahr 1999 gründete er eine Bürgerinitiative und ging erneut auf die Barrikaden. Eine Schande sei es, dass das Haus jahrelang leer stand und die Stadt es verrotten ließ. Und dann auch noch die Verkaufspläne. Die Kultur-denk-mal-Initiative Uhlbach wehrte sich erfolgreich. Schraffenberger triumphiert: „Und jetzt feiern sie das 400-Jahr-Jubiläum des Gebäudes.“

Auch in einem weiteren Fall hatte die Stadt nicht die Rechnung mit dem Saarländer gemacht. Als die Pläne für die Gestaltung der Uhlbacher Ortsmitte auslagen, traute er seinen Augen kaum: Dort, wo heute die Busschleife am Uhlbacher Platz ist, sollte ein Gebäude stehen. „Ich habe einen bitterbösen Brief an die Verwaltung geschrieben“, erzählt er. Wieder einmal sollte der Mann recht behalten. „Die Idee, die Busschleife dorthin zu machen, kam von mir“, sagt Schraffenberger.

Immerhin ein Erfolg für ihn. In Sachen Landhaus an der Luise-Benger-Straße steht dieser noch aus. 1884 ist das Gebäude hinter der Uhlbacher Kirche erbaut worden – in einem großen Garten. Direkt dahinter gehen die Weinberge los, in denen noch Teile der alten Trockenmauern erhalten sind. Das Haus soll abgerissen werden, stattdessen sollen moderne Wohnungen in Flachdachbauten entstehen. „Viele haben Angst, dass das Grundstück zugebaut wird – aber sie sagen nichts“, meint Schraffenberger. Er ist da anders. Er macht den Mund auf und kämpft ein weiteres Mal. Mit ungewissem Ausgang.

Sentimentaler Grund

Doch was hält einen Saarländer aus Duttweiler ausgerechnet in dem kleinen Weinort Uhlbach, was fasziniert ihn an Obertürkheim? Und das bei all den Bausünden, die aus seiner Sicht begangen wurden? „Von Uhlbach aus kann man in die Geschichte eintauchen“, sagt Willi Schraffenberger. Es sei alles da, jede Epoche.

Und auch einen weiteren, ganz sentimentalen Grund hat er: Es ist der Blick auf diesen Stadtbezirk am Rande der Großstadt. Der ist so wie vor mehr als 35 Jahren, als Willi Schraffenberger zum ersten Mal vom Ailenberg hinab ins Neckartal sah und der Fluss bläulich schimmerte, geradezu wie in Hölderlins Gedicht: „Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal, wie Leben aus dem Freudebecher, glänzte die bläuliche Silberwelle.“ Es war die Farbe Blau, die ihn bleiben ließ.