Georg Friedrich Wilhelm Hegel auf einem Gemälde von Jakob Schlesinger, 1831 Foto: akg

Der internationale Hegel-Kongress hat im Stuttgarter Rathaus vier Tage lang über das Thema „Zweite Natur“ diskutiert.

Stuttgart - Alle sechs Jahre lädt die Internationale Hegel-Vereinigung Gelehrte aus aller Welt nach Stuttgart, in die Geburtsstadt des Philosophen Hegel, zu einem mehrtägigen Kongress ein, der als einer der wichtigsten Zusammenkünfte der internationalen Philosophenzunft gilt. Das Schwerpunktthema des Jahrgangs 2017, mit dem sich im Stuttgarter Rathaus von Mittwoch bis Samstag über vierhundert Teilnehmer aus Philosophie, aber auch Nachbardisziplinen wie Soziologie und Psychoanalyse in Vorträgen und Arbeitsgruppen befassten, lautete „Zweite Natur“.

Schon in der griechischen und römischen Antike prägten Philosophen die Formeln vom Menschen als „Zoon politikon“ (politisches Lebewesen) und „Animal rationale“ (vernünftiges Tier), um die eigentümliche Zwitterstellung der menschlichen Lebensform zu charakterisieren. Denn anders als Pflanzen und Tiere, so ihre These, ist der Mensch nicht ausschließlich durch seine Biologie, seine „erste Natur“ bestimmt, sondern bedarf einer zweiten, künstlichen Haut, um existieren zu können: benötigt Sprache, Kultur, soziale und politische Institutionen, Kunst und Religion. Muss man sich diesen Übergang von der Natur zur Kultur, vom Menschentier zum Kulturbürger als gleitenden, harmonischen Transformationsprozess vorstellen? Oder gibt es da Reibungen, Konflikte, Verwerfungen und Entgleisungen, ein „Unbehagen in der Kultur“, wie es Sigmund Freud in einer berühmten kulturkritischen Schrift 1930 diagnostiziert hat? Um diese Fragen ging es auf dem Kongress.

Tugendhaft aus Gewohnheit

Axel Honneth, der Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung und Philosophieprofessor an der Uni Frankfurt, versuchte in seinem Eröffnungsvortrag, die Geschichte des Begriffs „Zweite Natur“ von der Antike bis zur Gegenwart nachzuzeichnen. Schon der griechische Denker Aristoteles spricht davon, dass erst die im Erziehungsprozess angenommenen Gewohnheiten die Voraussetzung dafür bilden, dass Menschen tugendhaft handeln: „Darum werden uns die Tugenden weder von Natur noch gegen die Natur zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzunehmen, zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung.“ Hegel greift diesen Gedanken auf, wenn er schreibt: „Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit“.

Während Aristoteles und Hegel den Übergang von der ersten zur zweiten Natur als einen eher zwanglosen Prozess begreifen, sieht das die kritische Theorie von Marx über Lukács bis zu Adorno ganz anders. Die Gewohnheiten, die sich die Menschen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft antrainieren müssen, werden von diesen, so die kritische Diagnose, als ein ihre ursprüngliche Natur unterdrückender Zwang erfahren. Ist das eine Überdramatisierung oder eine berechtigte Kritik? Darauf gab es während des Kongresses unterschiedliche Antworten.

Eine Arbeitsgruppe befasste sich damit, wie in der französische Soziologie von Émile Durkheim über Marcel Mauss bis zu Pierre Bourdieu im Begriff des „Habitus“ Hegels Konzept einer zweiten Natur aufgegriffen wird. Gunter Gebauer (FU Berlin) zeigte, wie Bourdieu das Aufwachsen in einem bestimmten sozialen Milieu als unbewusste Einverleibung der Strukturen der umgebenden Welt beschreibt, die dem betroffenen Subjekt als alternativlos und damit natürlich erscheinen.

Die ungeheure Macht des Negativen

Auch in der Psychoanalyse nimmt das Verhältnis von erster und zweiter Natur eine zentrale Rolle ein. Béatrice Longuenesse (New York) entdeckte in Freuds metapsychologischen Schriften beim Übergang vom „Es“ zum „Über-Ich“, von Chaos der Triebe zum moralisch handelnden Subjekt Problemstellungen, die schon Kant und Hegel beschäftigt hatten. Wie Kant hat Freud keine harmonische Lösung der psychischen Konflikte zu bieten, aber er folgt Hegel darin, dass er anders als Kant zwischen der Natur der Triebe und dem Reich der Sittlichkeit und Freiheit keinen unüberbrückbaren Graben sieht. Denn für Freud sind die Triebe immer schon kulturell überformt, gibt es keinen kulturlosen Nullzustand der menschlichen Natur. Sie ist, in Hegels Sprache, immer schon „eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit“.

Wie steht es um die Kunst, ist sie in ihrer Künstlichkeit nicht die strikte Gegenwelt zur ersten Natur? In Hegels System gehört die schöne Kunst in die Sphäre des „absoluten Geistes“ und soll dort die Aufgabe erfüllen, etwas von Menschen Gemachtes dennoch erscheinen zu lassen, als ob es Natur wäre. Hegel denkt hier an die klassischen griechischen Skulpturen, die den schönen menschlichen Körper darstellen. In einer genauen Analyse von Hegels Argumentation zeigte Christoph Menke (Frankfurt/Main), wie aus Hegels Sicht dieses Programm scheitert, wie der moderne aufgeklärte Geist durch den verklärenden Schein der klassischen Kunst nicht mehr befriedigt wird.

Hat die Religion, das nächsthöhere Stadium in Hegels System des absoluten Geistes, eine Lösung zu bieten, die auch in der Moderne noch überzeugt? In der Sektion „Ritus – Zweite Natur und Religion“ stellte Thomas Schmidt (Frankfurt/Main) zwei alternative Vorschläge dazu vor. Während Jürgen Habermas seine eigene Diskursethik als „Versprachlichung des Sakralen“, als säkularisierte Version des religiösen Rituals begreife, habe Georges Bataille für eine Überschreitung der Grenze zwischen dem Profanen und dem Heiligen in der souveränen Geste der exzessiven Verausgabung und des Opfers plädiert.

Welches politische Potenzial in Hegels Religionsphilosophie steckt, zeigte Étienne Balibar (Paris) in einer genauen Lektüre von Hegels Formel vom „Tod des Todes“, mit der Hegel den Kreuzestod Christi deutet. Im Gegensatz zu vielen harmonisierenden Lektüren von Hegel beharrte Balibar darauf, dass in dieser Formel das für Hegel zentrale Motiv der „ungeheuren Macht des Negativen“ wirksam ist. Hegel ist für Balibar der letzte Philosoph des Christentums, der zugleich begriffen hat, dass die säkularisierte Moderne dessen legitime Erbin ist. Die nach dem Tod Gottes durch den heiligen Geist konstituierte christliche Gemeinde kann das Modell für eine demokratische Gemeinschaft abgeben, in der alle zugleich frei und gleich sind.