Hartmut Rosa liefert einen Gegenentwurf zum Gesellschaftsmodell des Liberalismus. Foto: dpa-Zentralbild

Jenseits des Wettbewerbsprinzips: Der Soziologe Hartmut Rosa will uns vom Fluch der Beschleunigung erlösen. In seinem Buch „Resonanz“ versucht er die Neuformulierung einer kritischen Theorie der Moderne.

Stuttgart - Es kommt selten vor, dass eine akademische Habilitationsschrift in der nichtuniversitären Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Das Buch „Soziale Beschleunigung – Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ des Soziologen Hartmut Rosa, 2005 im Suhrkamp Verlag erschienen, bildet da eine Ausnahme. Mit seiner These, wir befänden uns in der Moderne in einem kaum entrinnbaren Hamsterrad der Beschleunigung, hat es das Lebensgefühl vieler Zeitgenossen getroffen. Gut zehn Jahre später zeigt sich, dass der Soziologe mit dieser Studie ein ehrgeiziges Projekt begonnen hat, das nichts Geringeres anstrebt als die Neuformulierung einer kritischen Theorie der Moderne. Rosas neues Buch mit dem Titel „Resonanz“ zeigt bereits mit seinem ersten Satz, dass es sich zu seiner Habilitationsschrift verhält wie die mögliche Antwort auf eine offene Frage: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“.

Rosa versteht sein Projekt als Fortführung der älteren Kritischen Theorie in der Nachfolge von Marx, Benjamin, Adorno, Fromm und Marcuse. Dabei schlägt er zunächst eine Neudefinition dessen vor, was unter „Moderne“ zu verstehen ist. Ihr zentrales Merkmal ist für ihn nicht die Zunahme von Rationalisierung (wie für Max Weber), von funktionaler Differenzierung (wie für Niklas Luhmann) oder von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung (wie für Jürgen Habermas), sondern die soziale Beschleunigung, also der „Prozess der Dynamisierung (oder des Immer-schneller-in-Bewegung-Setzens) der materiellen, sozialen und geistigen Verhältnisse“. Moderne Gesellschaften, so lautet Rosas These, stabilisieren ihre Identität nicht wie vormoderne Gesellschaften durch die Wiederholung ihrer überlieferten Grundmuster, sondern durch einen Prozess permanenter Veränderung. Sie sind auf ökonomisches Wachstum und technische Innovation angewiesen und verlangen von ihren Mitgliedern, sich in immer kürzeren Abständen flexibel auf neue Verhältnisse einzustellen.

Unter der Herrschaft der Beschleunigung

Bereits in seinen früheren Büchern hat Rosa diese Herrschaft des „Beschleunigungsregimes“ als eine „neue Form des Totalitarismus“ bezeichnet. In der „klassischen Moderne“, von der Mitte des 19. Jahrhunderts an, war das Zeitmaß dieser Veränderungsdynamik noch an die Abfolge der Generationen gekoppelt: Die Kinder arbeiteten, lebten und konsumierten anders als ihre Eltern. In der „Spätmoderne“ dagegen, seit etwa 1990, sind wir alle in immer kürzeren Abständen gezwungen, uns ein neues Handy anzuschaffen, in ein neues Computerprogramm einzuarbeiten, einen neuen Beruf, einen neuen Wohnort oder einen neuen Lebensabschnittsgefährten zu suchen.

Mit dieser Veränderungsdynamik war ursprünglich ein Freiheits- und Fortschrittsversprechen verknüpft. Aber inzwischen ist bei vielen Zeitgenossen die Faszination durch das Immer-mehr und Immer-schneller einer Angst gewichen, diesen Prozess der permanenten Veränderung mit Einbußen der Lebensqualität zu bezahlen. Die ökologische Krise, die Vertrauenskrise der Demokratie oder die Zunahme von „Burnout“-Symptomen in Berufskarrieren und im privaten Bereich sind Symptome dieses Unbehagens am Beschleunigungsregime.

Aber wie lässt sich Lebensqualität messen? Eine Kritik der Moderne aufgrund eines Unbehagens an ihrem Beschleunigungszwang müsste über den Maßstab eines „guten Lebens“ verfügen, an dem gemessen das Beschleunigungsregime als pathologische Verfehlung zu bestimmen wäre. Davor ist die Soziologie bisher zurückgeschreckt, seit den Tagen Max Webers hat sie sich vielmehr als „wertfrei“ verstanden. Was ein gutes Leben sei, müsse in der individualisierten Moderne jeder für sich selbst entscheiden, lautet ihr Credo. Hartmut Rosa dagegen will die Frage nach dem guten Leben wieder ins Zentrum der Soziologie rücken. Hier kommt seine Resonanztheorie ins Spiel: als eine Theorie gelingender Weltbeziehungen.

Jenseits des Wettbewerbsprinzips

In einem weit ausholenden systematischen Entwurf bestimmt Rosa Resonanz als eine Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und durch diese Berührung gegenseitig beeinflussen. Das fängt an mit den körperlichen Weltbeziehungen des Atmens, Essens, Trinkens und sich Bewegens, geht weiter mit den „Resonanzsphären“ der Familie, der Freundschaft, der Politik, der Arbeit und des Sports und endet schließlich in den „vertikalen Resonanzachsen“ der Religion, der Natur, der Kunst und der Geschichte. In die theoriegeschichtliche Ahnenreihe dieser Resonanztheorie gehört neben der älteren Frankfurter Schule vor allem der Kommunitarismus des kanadischen Sozialphilosophen (und Stuttgarter Hegelpreisträgers) Charles Taylor. Aber auch die phänomenologische Tradition vom frühen Heidegger bis zu Merleau-Ponty spielt eine bedeutende Rolle.

Rosas Resonanztheorie ist ein Gegenentwurf zum Gesellschaftsmodell des Liberalismus, das vom isolierten Einzelnen ausgeht und dessen Verhalten der Welt gegenüber als ein instrumentelles bestimmt, das seine Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen erweitern will. Rosa hält die „Vorstellung, die Lebensqualität werde durch die Vermehrung von Ressourcen und Optionen per se verbessert“, für irreführend. In der Resonanztheorie wird vielmehr der Einzelne erst durch die Antworten, die aus der Welt auf ihn zukommen, zum Subjekt. Und diese Resonanzen lassen sich nicht erzwingen, sie sind, wie Rosa immer wieder betont, „unverfügbar“. Unter dem Beschleunigungsregime der Spätmoderne, so Rosas Diagnose, wird es für die Menschen immer schwieriger, stabile „Resonanzachsen“ aufzubauen. Immer mehr von ihnen erleben die Gegenwart als „Resonanzkatastrophe“, als eine Welt, die nicht mehr antwortet, sondern stumm bleibt.

Was tun? Um die Beschleunigungsdynamik zu brechen und den Weg in eine „Postwachstumsgesellschaft“ zu ebnen, muss man nach Rosas Meinung mit dem das die Beschleunigung antreibenden Konkurrenzprinzip brechen und über eine „radikal wettbewerbsbeschränkende Reform der Sozialorganisation“ nachdenken. Auch von einem bedingungslosen Grundeinkommen erhofft er sich einen Ausstieg aus der Logik des Immer-schneller und Immer-mehr. Wer an einer kritischen Diagnose der Gegenwart interessiert ist, wird an Rosas Buch nicht vorbeikommen.

Hartmut Rosa: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag. 816 Seiten, 34,95 Euro.