Der Hans-im-Glück-Brunnen bildet das Zentrum des Platzes in der Geißstraße Foto: Peter-Michael Petsch

Der namenlose Platz um den Hans-im-Glück-Brunnen in der Stuttgarter Innenstadt verströmt im Sommer ein fast südländisches Flair: Die Häuser mit den hohen Giebeln und Laubengängen, die gut besuchte Gastronomie mit Straßenbewirtung und nicht zuletzt auch der Brunnen in der Mitte des Platzes sorgen für diese Stimmung.

Stuttgart - Der namenlose Platz um den Hans-im-Glück-Brunnen in der Stuttgarter Innenstadt verströmt im Sommer ein fast südländisches Flair: Die Häuser mit den hohen Giebeln und Laubengängen, die gut besuchte Gastronomie mit Straßenbewirtung und nicht zuletzt auch der Brunnen in der Mitte des Platzes sorgen für diese Stimmung. Wer sich genauer umschaut, kann an diesem Platz Märchenhaftes entdecken: Hans im Glück an dem zentralen Brunnen des Platzes zwischen Eberhard-, Nadler- und Steinstraße ist nur eine von zahlreichen Märchenfiguren, die die Giebel, Dächer und Brunnen im Quartier schmücken.

Wer genau hinschaut, dem fallen Froschkönig, Till Eulenspiegel, Hänsel und Gretel, das Hutzelmännlein, der Leierspieler oder auch Merkur, der Gott der Diebe und Händler ins Auge, die sich hier an den Ecken, Fassaden und Dächern tummeln. „Das übergeordnete Motto des Quartiers ist das Glück“, erklärt Herbert Medek, der im an den Platz angrenzenden Stadtplanungsamt als Stadtverwaltungsdirektor tätig ist. Er ist einer der Autoren der Broschüre „Inszeniertes Glück“, in der die Geschichte des Viertels beschrieben wird. Das Glück spiele in dem Fassadenschmuck mit den Märchenmotiven meist eine Rolle, da man es symbolisch den Bewohnern des Viertels bei der Einweihung mit auf den Weg geben wollte. Denn das Quartier stammt trotz seiner Erker und Giebel nicht aus dem Mittelalter, wie mancher vermutet. Der Hans-im-Glück-Brunnen wurde am 12. Mai 1909 als Abschluss eines dreijährigen Sanierungsprojektes eingeweiht. Nach umfangreichen Abbruchmaßnahmen hatte man 36 Gebäude zwischen 1906 und 1909 neu errichtet und die Straßen verbreitert. „Das war eine der ersten Stadtsanierungen“, sagt Medek. Und wer dort eine Wohnung ergattern konnte, hatte in der Tat großes Glück.

Denn wo heute Nachtschwärmer in den Bars sitzen oder tagsüber durch die Geschäfte flanieren, war noch vor 105 Jahren ein Armenviertel. „Die Bewohner haben unter katastrophalen Bedingungen gelebt“, sagt Medek. Die Straßen seien eng und dunkel gewesen, kaum eine Familie habe eine Wohnung für sich gehabt: „Man lebte dicht aufeinander in völlig maroden Zwei-Zimmer-Wohnungen ohne eigenes Bad oder eine richtige Küche“, sagt Medek. Die Geißstraße – heute sieben Meter breit – war damals nur drei Meter schmal. Die Brand- und Seuchengefahr war dementsprechend groß. Dazu kam der Nesenbach, der einen Teil der Altstadt durchfloss und als Abwasserkanal Stuttgarts diente. Der oft überschwemmte Bach sorgte in den unbelüfteten Straßen zusätzlich für unhygienische Zustände.

Einige der Arbeiter, Handwerker, niederen Angestellten und Beschäftigten in den unteren Einkommensbereichen wollten unter diesen Bedingungen nicht länger leben, und ihre Stimmung verschlechterte sich. Um sie zu beruhigen und die Stadt von sozialen Schwachstellen zu befreien, wurde auf Initiative des Bankiers und Sozialreformers Eduard Pfeiffer und seines „Vereins für das Wohl der arbeitenden Klasse“ die längst fällige Sanierung der Altstadt vorangetrieben. „Es war allerdings keine Sanierung im heutigen Sinne“, sagt Medek. Denn die Häuser im Quartier wurden aufgekauft, abgerissen und komplett neu aufgebaut. Ziel war es, ausreichend Licht und Luft in die Straßen zu bringen, die Rettungswege und die Verkehrssituation zu verbessern und moderne Geschäfte anzusiedeln. „Optisch sollte das neue Viertel an wohlhabende Handelsstädte wie Meran oder Bozen erinnern“, sagt Medek. Romantisch und heimelig wurde das Viertel außerdem durch die Szenen aus Märchen und Sagen, die sich an den Fassaden finden.

Damit sich die Bewohner wohlfühlen, entstand eine kleine Märchenwelt, in der das Glück meist eine Rolle spielt: So entdeckt man Till Eulenspiegel, der der Gesellschaft den Spiegel vorhält, in doppelter Ausführung am Haus Geißstraße 3. In der Geißstraße 15 sind am Erker Hänsel und Gretel beim Pfefferkuchenhaus zu sehen. Auch hier spielt das Glück im weitesten Sinne eine Rolle, da Hänsel und Gretel am Ende wieder glücklich mit den Eltern vereint sind. Die Brezel in der Steinstraße 9 sollte wohl vor allem auf eine Bäckerei hinweisen, doch auch sie gilt als Symbol des Glücks.

In Eduard Mörikes Märchen „Stuttgarter Hutzelmännlein“, das mit drei Szenen am Erker des Gebäudes in der Nadlerstraße 5 dargestellt ist, spielt das Motiv Glück sogar eine entscheidende Rolle für die Hauptfiguren Seppe und die Schöne Lau. Ebenso wie es natürlich in dem Märchen „Hans im Glück“ thematisiert wird. „Es war sicher kein Zufall, dass ein Märchen für den zentralen Brunnen im Arbeiterquartier gewählt wurde, bei dem das Glück schließlich in der Besitzlosigkeit gefunden wird“, sagt Medek.

Der damalige Oberbürgermeister Heinrich von Gauß wünschte den Bewohnern zur Brunneneinweihung viel Glück bei ihrem Bemühen, die Innenstadt zu beleben. Und tatsächlich sprechen die Passanten heute von Glück, wenn sie an dem beliebten Platz um den Brunnen an diesen spätsommerlichen Tagen noch einen freien Platz in den Restaurants und Bars ergattern.