Beim Sport können Nichtbehinderte nachempfinden, wie Behinderte sich fühlen Foto: Max Kovalenko

1300 Schüler von 27 Schulen in der Region erlebten zuletzt, wie es sich anfühlt, mit einem Handicap Sport zu treiben. Dabei wurden Barrieren abgebaut und ein neues Bewusstsein für Menschen mit Behinderung bei den Kindern geschaffen.

1300 Schüler von 27 Schulen in der Region erlebten zuletzt, wie es sich anfühlt, mit einem Handicap Sport zu treiben. Dabei wurden Barrieren abgebaut und ein neues Bewusstsein für Menschen mit Behinderung bei den Kindern geschaffen.

Stuttgart - Projekteritis. Der Begriff ist selbst bei guten Initiativen zu einem Schimpfwort verkommen. Die Kritik lautet meistens: Die Wirkung von Projekten verpufft zu schnell. Strohfeuer. Nicht von Dauer. Zu teuer.

Gerade beim Thema Inklusion kann man schnell diesen Verdacht hegen. Doch das Projekt der Sportregion Stuttgart „Handicap macht Schule“ mit einem Budget von 50.000 Euro hat eine wichtige Hürde genommen. Seit Januar 2014 wurden etwa 1300 Schüler in 27 Schulen über den Sportunterricht für das Thema Behinderung sensibilisiert – nun ist sicher: Die Sache geht im kommenden Schuljahr weiter.

Die Reaktion der beteiligten Schüler zeigt: Wer im Sportunterricht einmal im Rollstuhl Basketball oder Blindenfußball gespielt hat, der sieht Menschen und deren Behinderung mit anderen Augen. Langfristig.

Das zeigte sich auch bei der Abschlussveranstaltung in der Altenburgschule im Hallschlag. Die Schüler ohne Behinderung konnten sich nach einer Stunde Rollstuhl-Basketball in die Lage eines Menschen mit Behinderung hineinversetzen. Spontane Äußerungen wie „ich fand es toll, dass wir mal fühlen durften, wie ein Behinderter sich dabei fühlt“, belegen das Gefühl von Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann: „So ein Perspektivwechsel ist für die Kinder wichtig. Er schafft ein neues Bewusstsein. Kinder lernen die Probleme und Sorgen der Menschen mit Behinderung kennen.“

Lucas Mallinowski, der in 20 Schulen als ehrenamtlicher Helfer dabei war, bestätigt den Eindruck der Bürgermeisterin: „Am Anfang der Stunde haben die Kinder alle etwas schräg geschaut, am Ende waren sie beeindruckt und empfanden Menschen mit Behinderung nicht mehr als etwas Fremdes.“ Es ist Basisarbeit. Zumindest sieht das Thomas Nuss vom Württembergischen Behinderten und Rehasportverband so: „Diese Kinder werden durch diese Erfahrung zu Multiplikatoren. Dieses Projekt trägt in zehn bis 15 Jahren Früchte.“

Dann werden manche dieser Kinder selbst Eltern oder Lehrer sein. Sie werden vielleicht sogar Funktions- oder Entscheidungsträger sein, die so mit einer positiven Haltung in die Gesellschaft hineinwirken.

Bisher haben immer noch (zu) viele Erwachsene Vorbehalte – zum Beispiel zur Inklusion in der Schule. „Mir ist das Problem bewusst“, sagt Susanne Eisenmann, „aber wir können es nur schwer direkt angehen. Vielleicht kommen wir durch so ein Projekt indirekt an die Eltern heran. Hier müssen wir Überzeugungsarbeit leisten.“ Nicht nur im Elternhaus. Auch beim Kultusministerium. Eisenmann kritisierte die Landesregierung dafür, dass die „Rahmenbedingungen für eine inklusive Beschulung, die Schulen und Lehrer immer wieder an Grenzen“ bringe. Auch das Schulgesetz müsse novelliert werden.

Die Rektorin der Altenburgschule, Katrin Steinhülb-Joos, nickte zu den Worten der Bürgermeisterin zustimmend. „Inklusive Beschulung braucht Zeit“, sagt sie. Wenn man Zeit mit Geld, also Lehrerdeputaten, übersetzt, versteht man die Kritik der Schulleiterin. Lehrer im Regelschulbetrieb stoßen immer wieder an ihre Grenzen, wenn es gilt, mit den Sonderschulpädagogen im Team die nötigen Absprachen zu treffen. „So etwas braucht viel Zeit“, sagt Katrin Steinhülb-Joos, „vor allem, wenn es im Ganztagsbetrieb laufen soll.“

Die Altenburgschule in Bad Cannstatt ist momentan auf dem Weg zu einer Ganztageseinrichtung. Bisher lernten dort 24 Kinder mit Behinderung, im kommenden Schuljahr sollen es 52 sein. Allerdings müssen dann Kinder, Lehrer und Eltern Opfer bringen. „Wir platzen räumlich aus allen Nähten“, sagt die Schulleiterin und weist auf ein weiteres Problem hin: den Klassenteiler. Aus ihrer Sicht sollten höchstens 24 Kinder ohne Behinderung mit vier behinderten Kindern zusammen lernen. Derzeit sind es in einer Klasse bis zu 32 Schüler. „So wird man keinem Schüler gerecht“, sagt Katrin Steinhülb-Joos. Sie hätte auch sagen können: So macht Inklusion keine Schule. Ganz im Gegensatz zu dem Projekt der Sportregion. Es hat nicht nur in der Altenburgschule gezeigt: Inklusion ist (k)ein Kinderspiel. Wo sich Erwachsene schwer tun, gehen Kinder spielerisch und ohne große Vorbehalte mit dem Thema Inklusion um.