Hélène Grimaud Foto: Mat Hennek/DGG

Bei den „Meisterkonzerten“ hat Hélène Grimaud Bartóks drittes Klavierkonzert gespielt.

Stuttgart - Der Anfang ist lauter Sahne. Cremig klingt am Dienstagabend die Ouvertüre zu Joseph Haydns Oper „L’isola disabitata“ im Beethovensaal. Der 41-jährige Kanadier Yannick Nézet-Séguin steht beim ersten Abend der „Meisterkonzert“-Reihe am Pult der Rotterdamer Philharmoniker. Er bemüht sich um klare Gestaltung, um sprechende Artikulation; das Ergebnis wirkt dennoch nicht leicht, nicht bewegt genug. So belanglos mag man Haydn heute nicht mehr hören.

Dann aber kommt die Frau, die in den 90er Jahren am Klavier eine steile Karriere hinlegte: Hélène Grimaud, knapp 47, in Frankreich aufgewachsen und heute besonders in New York zu Hause, war wegen mehrerer schwerer Erkrankungen zuletzt nicht mehr sehr präsent. Jetzt spielt sie auf einer Tournee mit den Rotterdamern das letzte, moderateste, in Tonsprache und Ausdrucksextremen zurückgenommenste von Béla Bartóks drei Klavierkonzerten. Hier wäre ein sahniger Anfang schön gewesen, aber das Orchester, das sehr leise beginnt, und die Pianistin, die sehr direkt agiert, müssen erst zusammenfinden. Mit der Zeit gelingt die Balance besser. Aber wirklich gut wird die Darbietung nicht: Der erste Satz, später auch das Finale, fallen auseinander, bestehen aus aneinandergereihten Einzelmomenten. Etliches – wie etwa das schöne Echo-Spiel zwischen Flügel und Soloflöte – ist fein ausgearbeitet und ausgeleuchtet. Aber es fehlt die Idee. Es fehlt ein Spannungsbogen. Und im Mittelsatz bleibt der Solopart vor allem deshalb blass, weil der Pianistin keine Differenzierung ihres Anschlags gelingt. Hélène Grimaud ist Synästhetikerin, das heißt, sie ordnet Tönen Farben zu. Merkwürdig also, dass man von ihr nur einen einzigen Tonfall, eine einzige Farbe zu hören bekam; das ewige Grau muss sie doch selbst gelangweilt haben. Die wirkungsvollen Schlusstakte trösten nicht: So belanglos mag man Bartók nicht hören.

Mahlers erste Sinfonie: umwerfend naiv und umwerfend spannend

Dass man ein bekanntes Werk mit feiner Arbeit an Details aufregend neu wirken lassen kann, hat Yannick Nézet-Séguin schon in seiner erst kürzlich erschienenen Aufnahme von Gustav Mahlers erster Sinfonie (mit dem Symphonieorchester des bayerischen Rundfunks) bewiesen. Wie tief er das Werk erfasst hat, kann man nun auch bei den Rotterdamer Philharmonikern hören: Mit großer Ruhe breitet der Dirigent über Liegetönen der Streicher mithilfe einer fein abgetönten Dynamik und Tempo-Dramaturgie die weite Welt des ersten Satzes aus. Hier baut sich genau jene Spannung, jenes energetische Vorwärtsdrängen auf, das Bartóks Konzert zuvor abging. Auf das derbe Volkstanz-Ambiente des Scherzos folgt ein durchgestylter Trauermarsch; die grotesken Szenen, die sich hier abspielen, malt das Orchester mit frischem, klarem Strich – und mit exzellenten Solobläsern. Das Doppelbödige und Heterogene von Mahlers Musik, das Schöne und das Schreckliche: Nézet-Séguin bringt es zusammen – ziemlich undistanziert, ja vielleicht sogar ein wenig naiv, aber so packend, dass man den Atem anhält. Das spürt auch das Publikum. Es ist aus dem Häuschen.