1999 staunt die Literaturwelt und applaudiert. Günter Grass erhält den Literaturnobelpreis. Für ein Gesamtwerk, das sprach- und bildmächtig ein untergegangenes Europa beschwört – beginnend mit dem Welterfolg „Die Blechtrommel“. Am Montag ist Günter Grass im Alter von 87 Jahren gestorben.

Stuttgart - Das war Balsam auf die Seele des Literaturnobelpreisträgers: Im Oktober 2006 war Günter Grass nach Schwäbisch Hall eingeladen zu den baden-württembergischen Literaturtagen.

Da lagen nervenaufreibende Wochen hinter ihm. Sein spätes Bekenntnis, als 17-Jähriger in den letzten Kriegstagen Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, erschütterte nicht nur die kulturinteressierte Öffentlichkeit. Allgemeinheiten über ihn wie er sei das Gewissen der Nation, standen auf einmal auf dem Prüfstand, auch aus dem Ausland kamen aufgeregte Reaktionen.

Doch an diesem Herbsttag in Hall war es anders: Eingeladen hatte die Kunsthalle Würth zur Eröffnung der Ausstellung „Literatur kann man sehen“. Gezeigt wurden Arbeiten von Hermann Hesse, Hans Magnus Enzensberger und Grass aus der Sammlung Würth, also bildnerische Arbeiten von künstlerischen Mehrfachbegabungen. Natürlich war die Aufmerksamkeit gewaltig, als der jüngste deutsche Literaturnobelpreisträger zur Ausstellungseröffnung kam, das Foyer der Kunsthalle reichte bei weitem nicht aus, auch draußen stand noch viel interessiertes Publikum.

Hier, umgeben von eigenen Arbeiten, war endlich wieder die Kunst das Thema. Die Anspannung der vergangenen Wochen war Grass noch anzusehen, verkniffener denn je wirkte er mit Schnauzbart und Pfeife. Doch er entspannte sich schnell, als er auch bemerkte, dass es Enzensberger – der langjährige Künstlerkollege aus der Gruppe 47 und meist intellektuelle Widerpart saß neben ihm auf dem Podium – auch vor allem um die Sache und weniger um Schlagzeilen ging. Enzensberger lapidar zum damals bewegenden Thema: „Dazu hat doch eh schon jeder was gesagt.“

Und die Sache ist die Kunst, etwa die Frage, wie man konkret in verschiedenen künstlerischen Disziplinen tätig ist. „Wenn ich etwa drei bis vier Jahre lang an einem größeren Prosawerk geschrieben habe, muss ich das Werkzeug und die Materialien wechseln, um nicht in ein Loch zu fallen“, beschrieb Grass seine Arbeitsweise und verwies dabei auf die Aquarelle, die nach der Veröffentlichung seines Romans „Ein weites Feld“ entstanden sind. Oder: „Wenn ich schreibe, spreche ich die Sätze immer laut mit, um festzustellen, ob sie auch rhythmisch stimmig sind“.

Da ist also auch viel Körperlichkeit im Spiel beim Schreibprozess. Die Gruppe 47 ist ein weiteres wichtiges Stichwort: Im Herbst 1958 hat Grass erstmals bei einer Tagung der Autorengruppe aus den Manuskripten seines damals noch unveröffentlichten Romans „Die Blechtrommel“ vorgelesen. Dafür erhielt er auch gleich ein Preisgeld in Höhe von 5000 Mark, was er offensichtlich dringend benötigte, denn schon wenige Tage später schrieb er an den Mentor und Gruppengründer Hans Werner Richter: „Ich wäre froh, wenn das Geld bald käme; denn bald bin ich pleite.“ Heute zählt der 1960 erschienene Roman zur Weltliteratur.

Insbesondere sein Frühwerk ist von seiner Biografie geprägt. Grass wurde am 16. Oktober 1927 als Sohn eines Lebensmittelhändlers und einer Katholikin kaschubischer Abstammung in Danzig geboren und verbrachte seine Kindheit in einfachen Verhältnissen. Davon kündet insbesondere seine Danziger Trilogie, bestehend aus „Die Blechtrommel“, „Katz und Maus“ sowie „Hundejahre“. Zuvor studierte er zwischen 1948 und 1952 Grafik und Bildhauerei an der Düsseldorfer Kunstakademie und lebte von Gelegenheitsarbeiten.

Grass avanciert zum bedeutendsten zeitgenössischen Autor der deutschen Sprache, unumstritten ist er deshalb aber nicht. Schon immer nutzte er seine Bekanntheit, um zu gesellschaftlichen Vorgängen prononciert Stellung zu nehmen, viele Jahre engagierte er sich für die SPD auch in Wahlkämpfen, eine Zeitlang war er sogar deren Parteimitglied. Grass sah das so: „Ich bin ein engagierter Bürger, der von Beruf Schriftsteller ist, und sehe das nicht als Gegensatz an, sondern als andauernde Notwendigkeit, weil Demokratie etwas ist, was ständig neu erobert werden muss.“

Heftig waren stets die Attacken. Als der Kritiker Marcel Reich-Ranicki seinen 1995 erschienenen Roman „Ein weites Feld“ mit heftigen Worten ablehnte, illustrierte dies der „Spiegel“ mit einem Bild des Kritikers, der dieses Buch in zwei Hälften zerriss. Als die (Zwangs-)Mitgliedschaft von Günter Grass bei der Waffen-SS bekannt war, wollte ihm der polnische Politiker Lech Walesa die Danziger Ehrenbürgerschaft aberkennen.

Der große Roman über die deutsche Wiedervereinigung trägt den ebenso literaturhistorisch wie gesellschaftspolitisch konsequenten Titel „Ein weites Feld“. Günter Grass verhehlt darin nicht seinen Argwohn gegen Tempo und Konsequenzen der nationalen Neuorientierung und erfüllt die Rolle der Künste als kritische Beobachter der formal vor 20 Jahre vollzogenen und gesellschaftlich doch stetig zu bestätigenden Einheit.

1995 ist „Ein weites Feld“ erschienen, doch auch danach treibt die junge Einheit der Nation den Literaturnobelpreisträger Grass um. So sehr, dass er 2009 gar seine Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1990 veröffentlicht. „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ war Grass damals. „Ich bin kein passionierter Tagebuchschreiber“, lässt uns der Autor wissen, der dessen ungeachtet zuletzt doch mit dem Gedichtband „Letzte Tänze“ als auch mit den „Die Box“ betitelten Notationen zu einem fiktiven Treffen der eigenen Großfamilie (vier Frauen, acht Kinder) hervorgetreten ist. Privates, Halbprivates, Halböffdentliches, Öffentliches, so weit das Leserauge reicht. Und doch glaubt Grass und schreibt es: „Es muss schon Ungewöhnliches anstehen, das mich in die Pflicht nimmt.“

Vom 2. Januar 1990 datiert die erste Aufzeichnung. Notiert im portugiesischen Grass-Domizil Vale des Eiras. „Verdächtig viele meiner schreibenden Kollegen, die vormals den (oder ihren) nachgeholten Antifaschismus aufsagen konnten wie Schillers „Glocke“, sind zurzeit national bis an die Grenze zum Stumpfsinn gestimmt.“

Grass dagegen hat sich ein anderes Thema „auferlegt“. Auschwitz. Der eine gegen den Strom, der eine gegen die seitenhohe deutsch-deutsche Schlagzeile „Wahnsinn!“. Der eine ganz bei sich selbst. Das „früh angelegte Ego“ nämlich hat, so erinnert sich Grass, der sich an den Hitlerjungen Grass erinnert, „allenfalls professionelle Ausprägungen erfahren“.

Von Vale des Eiras aus wird Grass in den kommenden Monaten reisen. Er „will in der DDR sein, um die Veränderungen nach der großen politischen und revolutionären Veränderung im Auge zu behalten“. Drunter macht er es nicht, kann er es nicht. Solch ein Anlauf aber setzt ein Innehalten voraus. „Was zwingt mich, mein ,Privates’ unter der Decke zu halten?“, fragt Grass, meint aber damit keineswegs die ja wesentlich später bestätigte Zwangsverpflichtung zur Waffen-SS. Nein, um Beziehungsfamiliäres geht es. „Vielleicht“, begründet Grass die Decke über dem Privaten, „die Angst, durch Benennungen den erträglichen und (mit einiger List) lebbaren Schwebezustand zu irritieren.“ Der wäre? „Es sind, um es mir kompakt zu sagen, acht Kinder (davon sechs „leibliche“) und vier Mütter, von denen ich umstellt bin, denen ich zugetan bin, die ich allzugerne als Patriarch um mich versammle: zwar sind die Kinder, doch nicht die Mütter unter einen Hut zu bringen.“

Jetzt also ist es heraus, und Grass kann sich einem weiteren Aspekt des eigenen weiten Feldes widmen – Zeichnen und Kochen.

Hinaus aber nun und hinüber, über Berlin nach Leipzig zunächst. Die kritische Annäherung an das eine Deutschland gewinnt an Tempo und an Gewicht. Seltene Heiterkeit schließlich am 3. Oktober: „Dem Kohl gelingt aber auch alles! Sogar Vollmond am Tag der Deutschen Einheit.“

Von da aus aber der neue Ernst der vollzogenen Einheit. Mehr trauernd als bestätigt beobachtet, hört Grass die beginnende Distanzierung der Einheitsrufer von dem neuen Ganzen. Das ihm im Bahn-Speisewagen auf den Tisch gelegte „Vaterlandsverräter“ klingt ihm noch bitterer jetzt. Umso mehr, als es im Spätherbst für die Sozialdemokraten noch absurder kommt als gedacht. Der Vollmond leuchtet das Land nicht nur aus, sondern auch zu. So muss es Grass erscheinen. Und noch ist das Jahr nicht zu Ende. Die Sowjetunion wankt, der Aufmarsch der US-Truppen gegen den Irak kann täglich abgeschlossen sein. Und dann: „Wie der Golfkrieg die deutsche Einheit weit wegrückt, wie unwirklich oder verjährt macht.“

Nach 253 Seiten und einem erneuten Rückflug von Faro nach Hamburg endet die Tagebuchreise am 1. Februar 1991. In einem anderen Deutschland, einem anderen Europa. So lesen wir Grass, daran erinnert er uns. Nun, da der Literaturnobelpresiträger in seiner Wahlheimat Lübeck im Alter von 87 Jahren gestorben ist, anhaltend in seinen Romanen, Essays, Gedichten, Novellen und Zeichnungen.