EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (links) küsst seinen Stellvertreter Frans Timmermans vor seiner Rede im Europäischen Parlament. Foto: AFP, dpa

Der EU-Kommissionspräsident will die Gemeinschaft demokratischer und handlungsfähiger machen. In seiner Rede zur Lage der Union schlägt Jean-Claude Juncker unter anderem die Erweiterung der Eurozone und des Schengen-Raums vor. Widerstand ist programmiert.

Brüssel - Der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker legt ein ehrgeiziges Programm für die Zukunft der EU vor. Bei seiner Rede zur Lage der Union, die der Chef der EU-Kommission traditionell nach der Sommerpause im Europaparlament hält, hat er den Mitgliedsländern weitreichende Vorschläge unterbreitet, wohin die Reise in der Gemeinschaft gehen soll: Sie beziehen sich auf die Wirtschaft und die europäischen Institutionen. Juncker betonte, dass dazu keinerlei Änderung der europäischen Verträge notwendig sei. Eine Änderung der Verträge gilt als heikel, weil in einigen Ländern dazu zwingend eine Volksabstimmung geboten ist.

Juncker will, dass die Eurozone und der Schengen-Raum größer werden: „Wenn wir unsere Außengrenzen stärken wollen, dann müssen wir Rumänien und Bulgarien unverzüglich den Schengen-Raum öffnen.“ Auch Kroatien sei ein Kandidat. Der Schengen-Raum steht für die Reisefreiheit in Europa. 1985 beschlossen die ersten Staaten, die Grenzkontrollen abzuschaffen. Mittlerweile gilt Schengen für 400 Millionen Europäer. 22 von 28 EU-Staaten sind dabei, mit der Schweiz und Norwegen machen auch einige Nicht-EU-Länder mit. Gerade in Deutschland, das in der Flüchtlingskrise die Reisefreiheit ausgesetzt hat, dürfte die geplante Aufnahme Rumäniens in den Schengen-Raum Diskussionen entfachen.

Der Euro als Einheitswährung

Der Euro soll laut Juncker zur Einheitswährung der gesamten EU werden. Abgesehen von Dänemark und Großbritannien sind alle Mitgliedsländer dazu berechtigt, dem Euro beizutreten. Juncker will den Ländern helfen, die noch nicht alle Kriterien für den Beitritt erfüllen. Er will ihnen dabei technische Hilfe leisten und in Einzelfällen auch Geld geben. Die Ausweitung der Eurozone sowie die Mittel dürften umstritten sein. Die Aufnahme Griechenlands in die Währungsunion war seinerzeit erfolgt, ohne dass das Land die Kriterien erfüllte. Hier wird ein Grund dafür gesehen, warum Griechenland zahlungsunfähig wurde und seit Jahren am Tropf der Geldgeber hängt. Ohne es explizit zu sagen, erteilte Juncker mit seinem Vorstoß dem Konzept von einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ eine Absage. Bundeskanzlerin Angela Merkel favorisiert ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“; sie glaubt, dass einige Staaten bei der weiteren Vertiefung der Union vorangehen sollen. So könnten Reformen schneller kommen.

Klare Ansage gegen die Türkei

Die EU soll nach dem Wunsch des EU-Kommissionspräsidenten wachsen. Die nächste Erweiterungsrunde ist zwischen 2019 und 2025 geplant. Kandidaten dafür nannte Juncker nicht, nur die Aufnahme der Türkei lehnte er entschieden ab. Als Anwärter gelten Serbien und Montenegro. Mit den Ländern führt die EU-Kommission bereits Beitrittsgespräche. EU-Diplomaten reden davon, dass die EU bald 30 und mehr Mitgliedsländer haben werde. Nach dem Austritt Großbritanniens im März 2019 hat die EU noch 27 Mitgliedsländer.

In seiner Rede machte Juncker zudem Vorschläge, wie die EU entscheidungs- und handlungsfähiger werden soll. Er will, dass in der Kammer der Mitgliedstaaten Beschlüsse in den beiden wichtigen Politikfeldern der Steuer- und Außenpolitik nicht mehr der Einstimmigkeit bedürfen. Wenn er mit diesem Vorstoß Erfolg hätte, würde eine qualifizierte Mehrheit ausreichen, um etwa Beschlüsse zu gemeinsamen Sätzen bei der Mehrwertsteuer und der Besteuerung von Konzernen zu fassen. Um Vorhaben durchzubekommen, würde es künftig reichen, wenn 55 Prozent der Mitgliedstaaten dafür stimmen, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Mehrheitsbeschlüsse wären ein Quantensprung

Dies wäre ein echter Quantensprung. Bislang scheitern alle Versuche, etwa Internetplattformen einheitlich in der EU zu besteuern, am Veto einiger Mitgliedstaaten wie Irland und Luxemburg, die die Konzerne mit lukrativen fiskalischen Konditionen angelockt haben. Aus den Hauptstädten wird wohl erheblicher Widerstand gegen die Ausweitung der Bereiche kommen, bei denen nach dem Prinzip der qualifizierten Mehrheit abgestimmt werden soll. Klar ist: Die gegenwärtige Vertragsgrundlage der EU sieht die Ausweitung vor.

In der Finanzpolitik will Juncker nicht ganz so ehrgeizig vorangehen wie etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er liegt mit seinen Vorschlägen eher auf einer Linie mit den Vorstellungen von Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Juncker erteilt nämlich dem Plan Macrons für einen mehrere Hundert Milliarden Euro schweren eigenen Eurozonen-Haushalt eine Absage: „Wir benötigen keinen separaten Eurohaushalt.“ Auch von einem gesonderten Parlament für die Eurozone hält er wenig. In diesem Bereich wird es noch viele Diskussionen geben.

Ein eigener Kommissar für die EU-Finanzen

Es gilt zudem, den Ausgang der Bundestagswahl und die Regierungsbildung in Deutschland abzuwarten. Denn von der Zusammensetzung der künftigen Koalition sowie der Frage, ob Schäuble Finanzminister bleibt, hängt ab, wie sich Berlin hier positioniert und wie der gemeinsame Vorstoß aussieht, den Paris und Berlin in der Sache unternehmen wollen. Dafür dürfte ein weiterer Plan Junckers im Bundesfinanzministerium nicht gerade auf Begeisterung treffen: Er will die Rolle des bisherigen Kommissars für Finanzen aufwerten und ihn zum Finanzminister der EU machen. Dieser soll auch Chef der Eurogruppe werden, der dem EU-Parlament Rechenschaft ablegen muss. Er soll damit wesentlich mehr Kompetenzen haben als bisher und etwa die Hilfen der EU koordinieren, wenn wieder einmal ein Land in eine Krise kommt und auf Unterstützung der anderen EU-Staaten angewiesen ist.

Darüber hinaus will Juncker die Doppelspitze der EU abschaffen. Künftig soll es nur noch einen Präsidenten geben. Bislang steht Juncker an der Spitze der Kommission, dem Verwaltungsapparat mit 32 000 Mitarbeitern, wo die Sachkenntnis zum Entwickeln von Gesetzgebungsvorhaben angesiedelt ist. Der Pole Donald Tusk ist Präsident des EU-Rates, dem Entscheidungsgremium der Mitgliedstaaten. Dieser Vorschlag dürfte allenfalls langfristig umsetzbar sein.