Boris Palmer: „Wir Grünen haben uns geändert.“ Foto: dpa

Boris Palmer über die Regierungsarbeit der Grünen, Stuttgart 21 und Schnittmengen mit der CDU.

Aalen/Tübingen - Die Südwest-Grünen treffen sich an diesem Wochenende zum Landesparteitag in Aalen und wählen ihre Führung neu. Wie hat sich die Partei im ersten halben Jahr seit der Regierungsübernahme entwickelt? Ein Interview mit Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer.

Herr Palmer, mit welchen Gefühlen gehen Sie in den Parteitag? Immerhin ist er der erste seit der Regierungsbildung, und das Verhältnis zur SPD ist derzeit wenig berauschend.
Für alle ist die jetzige Situation neu. Normalerweise streitet man in einer Koalition nicht in dieser Härte, vor allem nicht, wenn das Bündnis erst ein halbes Jahr alt ist. Aber Grüne und SPD sind beim Thema Stuttgart 21 nun mal völlig unterschiedlicher Meinung, teilweise liegen auch die Nerven etwas blank. Andererseits glaube ich aber, dass die Gemeinsamkeiten jenseits von Stuttgart 21 groß sind.

Aber das kommt beim Bürger nicht an. Stuttgart 21 überlagert alles.
Das stimmt. So ist das mit den Neuigkeiten. Wenn ein Zug bei der Einfahrt in den Stuttgarter Hauptbahnhof entgleist, ist das eine riesige Schlagzeile. Wenn aber 300 Tage zuvor alle Züge pünktlich waren, spricht darüber niemand. Das muss man akzeptieren, wenn man sich auf das Experiment Volksentscheid einlässt.

Womöglich wird der Volksentscheid am Quorum scheitern. Ist der Streit dann beigelegt?
Ich bin weder in der Regierung noch habe ich ein Parteiamt in Baden-Württemberg. Aber ich bin der Auffassung, dass das Ergebnis der Volksabstimmung politische Debatten auslösen wird, und zwar unabhängig von der Frage, ob das Quorum erreicht wurde oder nicht.

Wie meinen Sie das?
Machen wir ein Gedankenexperiment: Sollte das Quorum um eine Stimme verfehlt werden, aber zwei Drittel der abstimmenden Bürger würden sich für den Erhalt des Kopfbahnhofs aussprechen, dann wäre das Gesetz gescheitert. Trotzdem glaube ich nicht, dass die Regierung am nächsten Tag sagen könnte: So, jetzt wird weitergebaut.

Damit droht aber die Gefahr, dass die Diskussion um S 21 die Arbeit der Landesregierung weiterhin lähmt.
Jedenfalls wird das Thema nicht am ersten Tag nach der Volksabstimmung erledigt sein, denn allein der Streit um die Kosten wird uns weiter beschäftigen. Die Vereinbarung der Koalition ist da unmissverständlich: Kein Euro mehr für S 21 als zugesagt.

Und was passiert, wenn die Mehrheit der Baden-Württemberger für Stuttgart 21 ist: Zerreißt es dann die Koalition?
Grüne und SPD haben vereinbart, dass sie sich dem Votum der Bürgerschaft stellen. Ich denke, dass die Koalition jedes Ergebnis der Volksabstimmung aushält.

Wie sehr sind die Grünen denn inzwischen in der Regierung angekommen?
Mein Eindruck ist, dass wir als Neulinge in der Regierung eine ganz gute Zwischenbilanz vorlegen können, immerhin hat diese Kombination noch nie in Deutschland regiert. Gemessen daran stelle ich fest, dass Baden-Württemberg ziemlich reibungslos weiter funktioniert und alle Katastrophenszenarien für den Untergang des Abendlands nach einer Abwahl der CDU eindrucksvoll widerlegt sind. 

"Katastrophenszenarien sind widerlegt"

Die Frage ist aber: Viele Dinge aus dem Wahlkampf wie Bildungsreform oder Energiewende sind dem Bürger bisher zu wenig erklärt worden, das sorgt für Skepsis.
Diese Themen können noch gar nicht alle beim Bürger angekommen sein, weil man dafür konzeptionelle Vorarbeiten benötigt. Das sieht man derzeit in den Kommunen, wenn es um die Einführung von Gemeinschaftsschulen geht. Da liegt der Teufel im Detail, da stellen sich erst allmählich die Randbedingungen heraus. Mir ist es aber lieber, das wird langsam und gründlich als überstürzt und fehlerhaft gemacht.

Das klingt staatstragend. Wir bürgerlich sind die Grünen inzwischen geworden?
Mir scheint es, dass wir bei bürgerlichen Tugenden die CDU teilweise überholt haben. Jedenfalls traue ich Ministerpräsident Kretschmann nicht zu, dass er die EnBW ohne Beteiligung des Parlaments verkaufen würde oder Wasserwerfer zur Durchsetzung von politischen Zielen in den Schlosspark schickt. Beides wäre unbürgerlich.

Beides sind aber Extrembeispiele.
Wenn Sie auf wilde Gründungszeiten anspielen, war es sicherlich ein weiter Weg von der Parteigründung mit Kaktus und Parka bis jetzt zu den Regierungsgeschäften in der Villa Reitzenstein. Aber das hat sich gelohnt. Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen 30 Jahren genauso geändert, wie die Grünen das getan haben.

Wo sind Sie bürgerlicher als die CDU?
Bei uns steht der freiheitliche Rechtsstaat und die Beteiligung des Bürgers seit jeher sehr hoch im Kurs. Die Vorstellung, dass man von oben herab regiert, war uns immer fremd. Die Bürger akzeptieren es nicht mehr, dass man ihnen Politik nur vorsetzt.

Werden die Grünen denn in den nächsten Jahren brav oder unberechenbar?
Es wird sehr wichtig sein, den Unterschied im Politikstil zu dokumentieren. Nach fünf Jahren an der Regierung in Baden-Württemberg sollte im Jahr 2016 bei der nächsten Landtagswahl den Bürgern klar sein, dass die Neigung der CDU, Baden-Württemberg als ihr Eigentum zu betrachten, nicht auf die Nachfolgeregierung abgefärbt hat.

Und wie groß wird die Schnittmenge mit der CDU sein? Die Partei versucht sich derzeit an allen Ecken und Enden zu erneuern.
Ich bin kein Anhänger der Schnittmengentheorie, weil es nicht immer gut ist, wenn man überall Gemeinsamkeiten mit dem politischen Partner hat. Was mich interessiert, ist die Frage, ob man gemeinsam etwas machen kann und ob es Ausschlusskriterien gibt. Diese Woche haben wir in Berlin gesehen, dass schon eine Autobahn ein rot-grünes Bündnis zum Scheitern bringen kann.

Das wäre hier auch mit der CDU passiert.
Ich beobachte aber, dass die Ausschlusspunkte mit der CDU geringer werden. In der Atom- und Windenergiepolitik hätte man vor zehn Jahren noch gute Gründe gehabt, dass es mit Schwarz und Grün nicht zusammengeht. Mittlerweile ist es anschlussfähig. Ähnliche Entwicklungen sehe ich bei Kinderbetreuung und Ganztagsschule, die von der CDU einst als Kindesberaubung verteufelt wurden. Kurzum: Ich sehe die CDU auf einem Modernisierungskurs, der es ihr auch möglich macht, mit den Grünen Gespräche zu führen. Wann auch immer.

Welche politische Botschaft geht von der Nicht-Realisierung eines rot-grünen Bündnisses in Berlin für den Landesparteitag in Aalen aus?
Es ist ein Signal, dass sich die Grünen nicht als natürlicher Partner der SPD begreifen sollten. Wir sind eine Partei, die vollkommen eigenständig ist und von Fall zu Fall prüfen muss, mit wem man politisch mehr erreichen kann.