Charlie Hebdo: Satire provoziert Foto: EPA

Satire darf provozieren und auch gotteslästerlich sein, findet unser Autor Markus Brauer im heutigen Leitartikel der Stuttgarter Nachrichten. Sie ist sogar Teil des Aufklärungsprozesses.

Stuttgart - Satire kann ganz schön auf die Nerven gehen und provozieren. Wer einen anderen verspottet und über ihn ablästert, will genau das erreichen. Er will verkrustete Denkmuster aufbrechen und einengende Dogmen infrage stellen. In der Antike und in archaischen Religionen musste derjenige, der Gott lästerte, büßen. Galt es doch als schwere Missetat, den „Deus omnipotens“ – den allmächtigen Gott – herauszufordern und zu schmähen.

Glücklicherweise sind diese Zeiten im heutigen Europa vorbei. Der Aufklärung sei Dank! „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung“, antwortete Immanuel Kant – einer ihrer bedeutendsten Vertreter – im Jahr 1784 auf die Frage, was es denn mit dieser geistigen und sozialen Reformbewegung auf sich habe. Alle den Fortschritt behindernden Strukturen und Hemmnisse sollten durch rationales Denken überwunden werden.

Ohne Aufklärung keine aufgeklärte Gesellschaft

Ohne Aufklärung gäbe es keine Grundrechte, keine Demokratie, keinen Pluralismus, keinen Schutz von Minderheiten, keine Meinungsfreiheit – und auch kein Recht auf Blasphemie. Nur wer eine andere Meinung zulässt und sie kritisch hinterfragt, anstatt gleich den dicken Knüppel rauszuholen, ist zu Dialog, Toleranz und Fortschritt fähig. Aufklärung ist ein permanenter Prozess gesellschaftlicher Veränderung, der weder vom Himmel fällt noch irgendwann endet, sondern von den Bürgern aktiv mitgetragen und umgesetzt werden muss.

An einer Religion wie dem Islam, der Apostasie – also die Abkehr vom Glauben – und Blasphemie als die größte aller Sünden ansieht und aufs Schärfste bestraft, ist die Aufklärung größtenteils spurlos vorübergegangen. Das macht viele seiner Anhänger anfällig für fromme Hysterie und maßlosen Zorn. Fundamentalismus und antiaufklärerisches Denken gibt es auch im Christentum – mit dem Unterschied, dass christliche Fundis nicht zu Mord und Terror aufrufen. Nicht die Satire und der Spott über Gott ist blasphemisch, sondern die religiös verbrämte Überzeugung, andere deswegen zu bestrafen. Ihnen mit dem Namen Gottes auf den Lippen das Leben zu nehmen ist das schlimmste Verbrechen und eine Pervertierung von Religion.

Satire ist „eine Bewährungsprobe für den Glauben“

Satire darf und muss provozieren. Sie lotet die Grenzen des guten Geschmacks und des gerade noch Erträglichen aus. Mitunter geht sie auch darüber hinaus – wie die Zeichentrick-Satire „Popetown“, eine Persiflage auf den Intrigantenstadl Vatikan. Auch die Katholische Kirche als „Kinderficker-Sekte“ zu bezeichnen, wie es ein Internet-Blogger 2012 tat, grenzt an Beleidigung. Im Zusammenhang mit der Missbrauchsdebatte ist diese Äußerung aber nicht justiziabel, weshalb die Klage vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten abgewiesen wurde. Zu Recht. Vor dem Gesetz sind alle gleich – ob Buddhist oder Christ, Hindu oder Muslim. Nur weil einem Religionskritik und Blasphemie nicht behagen, kann er nicht auf Sonderrechte zur Verteidigung seines Glaubens pochen.

Satire ist eine „Bewährungsprobe für den Glauben“, sagt der evangelische Landesbischof von Hannover, Ralf Meister. Deshalb müssen Gläubige Spott aushalten können, auch wenn er ihnen geschmacklos und gotteslästerlich erscheint. Schlechter Geschmack ist genauso legitim, wie die Freiheit, ihn zu äußern, unverzichtbar ist. Eine funktionierende Demokratie braucht die Infragestellung absoluter Wahrheiten und Dogmen, weil sonst Freiheitlichkeit und Pluralität in Gefahr geraten. Eine Gesellschaft, die sich aus Angst vor religiösen Fanatikern den Mund verbieten lässt, würde ihre eigenen Prinzipien verraten. Es wäre der Anfang vom Ende eines offenen und toleranten Miteinanders – und weit schlimmer als verletzte religiöse Gefühle.

m.brauer@stn.zgs.de