Das Hirn - viel erforscht und doch in vielem unergründlich Foto: dreamer82/Fotolia

Theologen sprechen über Gott, Hirnforscher über das menschliche Denkzentrum. Die Neurotheologie beschäftigt sich mit beidem. Kann man Gott im Gehirn dingfest machen?

Stuttgart - Im Deutschen Epilepsiemuseum in Kehl-Kork kann man sich über die Geschichte der Anfallkrankheiten und über prominente Betroffene wie den Apostel Paulus (10–65 n. Chr.) informieren. Im alten Irland wurde Epilepsie auch „Saint Paul’s disease“ (Krankheit des heiligen Paulus) genannt. Paulus’ „Damaskus-Erlebnis“, bei dem ihm laut Bibel Christus erschienen ist (Apostelgeschichte 9, 3–9), soll ein epileptischer Anfall zugrunde liegen.

Gott im Gehirn

Wenn Gott allgegenwärtig ist, wie die Kirchen lehren, muss er auch im Zentralnervensystem gegenwärtig sein. Offenbart sich der Allmächtige und Ewige im menschlichen Gehirn? Oder ist er ein Hirngespinst? Sind religiöse Erlebnisse nichts anderes als Hirnprodukte und eine subjektive Täuschung?

Neurotheologie

Wie alles Erleben hängen auch Glaubenserfahrungen mit komplexen Vorgängen im Gehirn zusammen. Seit einigen Jahren versuchen Hirnforscher dem Geheimnis des Glaubens auf die Spur zu kommen. Wenn bestimmte Hirnregionen bei Meditation und Gebet besonders aktiv sind, könnte dies ein Hinweis auf eine biologische Basis für die Glaubensfähigkeit des Menschen sein.

Dieses noch relativ neue Forschungsgebiet nennt sich „Neurotheologie“. Ihre Vertreter – Philosophen, Neurologen, Psychologen und Radiologen – wollen Gott quasi dingfest machen und religiöse Empfindungen, Erscheinungen und Gefühle neurophysiologisch – das heißt als Vorgänge und Prozesse in den Nervenzellen – erklären.

„Der gedachte Gott“

Einer der Pioniere dieses neuen Denkens ist Andrew Newberg. Der amerikanische Hirnforscher und Religionswissenschaftler hat die Neurotheologie Ende der 90er Jahre populär gemacht. „Wenn Gott tatsächlich existiert, so ist das Gewirr der neuronalen Leitungen und physiologischen Strukturen des Gehirns der einzige Ort, an dem er seine Existenz offenbaren kann“, schreibt Newberg in seinem Buch „Der gedachte Gott“ (2003).

Was geschieht im Gehirn, wenn jemand betet oder meditiert? Neurotheologen versuchen die Spuren religiöser Praxis mit Hilfe der Computertomografie zu messen. Bei Experimenten mit buddhistischen Mönchen und katholischen Nonnen stellte Newberg eine Abnahme der Aktivität in einem speziellen Hirnbereich fest, der für die räumliche Orientierung zuständig ist. Im Gebet hatten die Probanden das Gefühl, ihr Selbst zu verlieren und quasi in der Ewigkeit zu versinken.

Gottes-Modul

Der kanadische Neuropsychologe Michael Persinger hat mittels eines umgebauten Motorradhelms magnetische Felder erzeugt. 80 Prozent seiner Versuchspersonen berichteten später von spirituellen oder ähnlichen Erlebnissen.

Der US-Psychologe Vilayanur Ramachandran spekuliert über ein sogenanntes Gottes-Modul im Gehirn, in dem religiöse Gefühle lokalisiert sein könnten. Ramachandran hat nachgewiesen, dass Patienten mit sogenannten Schläfenlappen-Epilepsien auf religiöse Bilder stärker reagieren als auf sexuelle oder gewalttätige Eindrücke. Dies weise auf eine spezielle Hirnregion für Gotteserfahrungen hin – ein „Modul“, an dem die Idee Gott im menschlichen Denkzentrum andocken könne.

„Kein Fehler des Gehirns“

Aus Sicht der Theologie ist Glaube mehr als nur ein Produkt von Vorgängen in den Nervenzellen. Religion ist nicht nur frommes Gefühl oder meditative Versenkung, die auf Hirnaktivitäten zurückgeführt werden kann. Sie beruht ganz wesentlich auf Vernunft und Ethik, Denken und Handeln.

Was die Neurowissenschaftler entdeckt haben, sind in gewisser Weise Nervenimpulse mit religiöser Sequenz. „Unsere eigene Gehirnforschung kann die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen“, erklärt Newberg. Er habe den Nachweis erbracht, dass die Beschreibungen religiöser Erlebnisse „kein Ergebnis emotionaler Defekte oder schlicht Wunschdenken“ seien, sondern „biologisch real“.

Religion ist kein Produkt der Biochemie. „Religiöses Empfinden“, schreibt der Religionswissenschaftler Michael Blume, „kann durchaus auf neuronale Zustände zurückzuführen sein, aber Religion umfasst viel mehr als nur Erfahrungen des Transzendenten“. Gott sei „kein Fehler unseres Gehirns“.

Glaube und Evolution

Unbestritten ist, dass der Glaube dem Menschen in der Evolution Vorteile verschafft hat. Stabile Sozialstrukturen sind Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinander. Wer aufgrund seines Glaubens an eine höhere Macht oder ethische Werte seine Eigeninteressen denen der Gemeinschaft unterordnet, trägt mehr zu deren Überleben bei als jemand, der dauernd auf Ego-Trip ist.