Die Nornen als Regisseure: So bebildert Tobias Kratzer das Vorspiel zur „Götterdämmerung“ Foto: Matthias Baus

Nach der Oper Stuttgart hat das Badische Staatstheater Karlsruhe als zweites Haus den Vierteiler „Der Ring des Nibelungen“ von vier Regisseuren inszenieren lassen. Das Finale war packend.

Karlsruhe - Das ist der Anfang vom Ende. „The End“ steht auf einem roten Samtvorhang; davor kauern drei junge Männer auf Regiestühlen, die mit „Rheingold“, „Walküre“ und „Siegfried“ beschriftet sind. Die drei Männer haben ihr Werk getan, nun können sie nur noch warten, wie die Sache ausgeht – so wie die Zuschauer im Badischen Staatstheater, die am Sonntagabend die Rundung des „Rings“ mit der „Götterdämmerung“ erleben. Nach dem Stuttgarter „Ring“ 2002/03 hat man in Karlsruhe zum zweiten Mal den Versuch gewagt, Wagners Vierteiler von vier Regisseuren inszenieren zu lassen, und nun ist es an dem hochbegabten „Ring Award“-Preisträger Tobias Kratzer, dem Ganzen ein Ende zu machen.

Dass Kratzer, der 2019 mit „Tannhäuser“ in Bayreuth zu höchsten Wagner-Ehren kommen wird, die drei Nornen des Anfangs als Stellvertreter seiner drei Regie-Kollegen installiert und in der Folge immer wieder durch das Stück schickt, ist eine hübsche Volte. Deutlich relevanter indes ist Kratzers weitere Deutung der drei Schicksalswesen: Die Nornen, das sind bei ihm ohnmächtige Spielmacher, aus deren Kreis auch die Rheintöchter und Waltraute hervorgehen. Sie markieren das Theater als Theater, und als Figuren, die den drei Damen wie den drei Knaben aus Mozarts „Zauberflöte“ merkwürdig nahe sind, sorgen sie außerdem dafür, dass die „Götterdämmerung“ zwischen Komödie und Tragödie in der Schwebe bleibt.

Aus Wagners Weltenbrand wird ein kleines Lagerfeuer, aus der Dystopie eine Utopie

Einfluss wollen die drei Nornen-Regisseure auch nehmen – vergebens. Für das Ende sorgen nicht sie, und das Ende ist – ebenfalls ungewohnt – bei Tobias Kratzer und seinem Ausstatter Rainer Sellmaier kein Ende, sondern ein Anfang. Eine große Utopie. Aus Wagners großen Weltenbrand wird ein kleines Lagerfeuer, in dem Brünnhilde Wagners Partitur verbrennt. Und dann passiert’s: Dann ist der Ring an ihrer Hand erstmals an diesem Abend mehr als nur ein MacGuffin, also mehr als nur ein die Handlung vorantreibender, ansonsten aber sinn- und wertloser Gegenstand. Mit dem Ring an der Hand dreht die Walküre die Szene zurück: Die Handlung läuft rückwärts, es gibt eine Wiederauferstehung der Toten, und dann geht Brünnhilde alleine zurück in das weiße Himmelbett-Zimmerchen, das hier der Walkürenfelsen ist.

Wie das wird? Weiß keiner. Aber man muss, zeigt Kratzer, nicht die Perspektive der Nornenregisseure einnehmen und über der Tatsache verzweifeln, dass man beim absehbaren Weltuntergang ein hilfloser Voyeur bleiben muss. Starke, selbstbestimmte Individuen mögen Auswege finden.

Zwischen Tragödie und Komödie

Eine Tragödie ist das Stück in dieser Inszenierung nicht mehr. Eine Komödie ist es ebenfalls nicht, auch wenn der hehre Held, also Siegfried, gelegentlich so auftritt. Eine reine Komödie findet selbst im ersten Akt nicht statt, wenn das wilde Pferd Grane nur über die Zügel präsent ist, die wechselweise Siegfried oder Brünnhilde in der Türfüllung halten, und wenn das Paar zu seinen „Heil!“-Rufen als plakative Wahrzeichen der ironischen Brechung Karotten zur Fütterung des Tieres in die Luft hält. Ein netter, mal plump, mal interessant zwischen klugen Assoziationen vagierenden Abend ist es zunächst: mit dem exzessiv freudianisch gedeuteten Schwert Nothung, mit einem eher schwulen Schlappschwanz Gunther, dessen ambivalente Beziehung zu Siegfried Kratzer aber grandios ausformuliert, und einer recht träge geführten Männerchormasse. Der Schluss erst führt das Disparate zusammen, er rundet und adelt das Ganze, er macht aus der Dystopie eine Utopie, und er rechtfertigt das lange Zuschauen.

Mit Brünnhilde sorgt eine Frau für die Verklärung des autonomen Menschen

Das Zuhören lohnt sich ohnehin. Zwar gelingt der Badischen Staatskapelle nicht alles lupenrein, aber der Generalmusikdirektor Justin Brown, der nach zehn Amtsjahren mit der „Götterdämmerung“ seine letzte Premiere in Karlsruhe leitet, hat viel Sinn für Spannungsbögen und Atmosphäre, und nach einem noch etwas zusammengesetzt wirkenden ersten Akt kommt das musikalische Geschehen in einen prächtigen Fluss voller schön ausformulierter und ausbalancierter Details. Unter den Sängern glänzen ganz besonders der prägnant artikulierende und intonierende Konstantin Gorny als Hagen, der gemeinsam mit dem exzellent erfassten Gunther von Armin Kolarczyk und mit dem hinreißend fokussiert singenden Daniel Frank als Siegfried auch darstellerisch glänzen kann. Heidi Melton, eine Sopranistin von klischeehafter Brünnhilden-Statur, ersetzt körperliche Agilität durch packendes inneres Bewegtsein, und wer von ihr noch nicht überzeugt war, weil die im Forte oft herausknallende Höhe mit ihrer weichen, farbreichen Tiefe nicht mithielt, den bekehrt die Sängerin spätestens in ihrer Schlussszene. Dass hier eine Frau für die Apotheose des autonomen Menschen sorgt: Diese Utopie gäbe Stoff her für die nächste „Götterdämmerung“.

Termine 22. 10., 5. 11., 17. 12., 7. 1. Als Gesamtaufführung kann man den Karlsruher „Ring“ an Ostern und Pfingsten erleben.