Ein beeindruckendes Werk: die Videoinstallation „First Shot“ Foto: Nasan Tur

Der Göppinger Kunstverein zeigt in seiner Jahresausstellung Werke von Nasan Tur. Bis zum 10. September sind die Arbeiten des Berliner Konzeptkünstlers in der Kunsthalle zu sehen.

Göppingen - Schonungslos offenbart die Zeitlupe die Nacktheit des menschlichen Gesichts. Der Kamera entgeht keine noch so kleine Regung. Die Videoinstallation „First Shot“ des renommierten Berliner Konzeptkünstlers Nasan Tur aus dem Jahr 2014 verfolgt akribisch das Mienenspiel von Menschen, die zum ersten Mal eine Pistole in die Hand nehmen und schießen. Und, ja, es gibt ein Vorher und ein Nachher. Der Moment, in dem der Mensch seine Unschuld verliert, ist auf der großen Leinwand sichtbar, der sich der Betrachter gegenüber sieht.

Bis zum 10. September sind diese Videoinstallation und andere Arbeiten von Nasan Tur in der Göppinger Kunsthalle zu sehen. Der örtliche Kunstverein hat den diesjährigen Documenta-Teilnehmer für seine aktuelle Jahresausstellung gewonnen.

Tur richtet den Blick auch auf sich selbst

Vor der Kunst wird gewarnt. Wer die obere Halle der Kunsthalle betritt, bleibt zunächst an einem Zettel an der Tür hängen. „In der Ausstellung Nasan Tur in der Halle oben kommt es immer wieder zu sehr lauten Geräuschen“, heißt es da, nicht ohne den vorsorglichen Hinweis: „Ohrenschutz liegt im Eingangsbereich bereit.“ Den braucht man nun wirklich nicht. Tatsächlich aber erbebt der Boden hin und wieder unter einem lang gezogenen, bedrohlichen Grollen – ein erstes Signal, das in diesem lichtdurchfluteten Ausstellungsraum keine leichte Kost serviert wird. Nasan Tur, 1974 in Offenbach geboren, Absolvent der Hochschule für Gestaltung ebenda sowie der Frankfurter Städelschule, umkreist in seinen Arbeiten mit großer Beharrlichkeit die Fragen der menschlichen Existenz. Er zeigt den Menschen in seiner Hybris, seiner Angst und Verletzlichkeit. Dabei richtet er den Blick auch auf sich selbst: unsentimental, unerschrocken, ehrlich, wie in der Arbeit „The Remaining Life of Nasan Tur“, in der ein elektronisches Display in einem abgedunkelten Raum die statistisch errechnete verbleibende Lebenszeit des Künstlers Sekunde für Sekunde herunterzählt.

Doch zunächst begegnet dem Besucher die Werkreihe „Numbers“, blaue, in Aquarell gemalte Zahlen, die in den Jahren 2015 bis 2017 entstanden sind. 50 dieser gleichformatigen Bilder reihen sich in dem Ausstellungsraum aneinander. Durch die Gleichförmigkeit entsteht so etwas wie eine meditative Schwingung. Bei näherem Hinsehen verlieren die Zahlen jedoch ihre Unschuld. Unter den Ziffern sind in dünnen Bleistiftstrichen jeweils ein Ortsname und ein Datum vermerkt – Ort und Zeit eines schrecklichen Ereignisses. Die Zahl, wird sich der Betrachter gewahr, benennt nichts anderes als die Anzahl der Todesopfer. Ganz langsam habe er gemalt, sagt Tur, dem die tägliche mediale Flut von Schreckensmeldungen zusetzt, wie er zugibt. Er habe den Toten Zeit widmen wollen. Beim Betrachten dieser 50 Aquarelle schälen sich die Ereignisse in all ihrer Schrecklichkeit wieder aus dem Strudel von Nachrichten heraus, der täglich an uns vorüber rauscht. Veronika Adam vom Kunstverein formuliert es so: „Turs Kunst führt vor Augen, wie die mediale Welt die Wahrnehmung eines jeden bestimmt und wie verheerend dabei der Verlust jeglichen Mitgefühls ist.“

Monumentale Geräuschkulisse

Wieder ertönt das Grollen. Es kommt aus einem abgedunkelten Raum inmitten der oberen Halle. Dort ist die Videoinstallation „First Shot“ aufgebaut. Jedes Mal, wenn sich ein Schuss löst, baut sich diese monumentale Geräuschkulisse auf. Bis zur Hüfte und in Übergröße sind die Debütanten auf der großen Leinwand zu sehen. Durch die extreme Zeitlupe erscheinen ihre Bewegungen tänzerisch, fast schwebend. In ihren Gesichtern spiegeln sich ambivalente Gefühle. Doch kurz nach dem Schuss stellt sich bei allen, ob Frau oder Mann, jung oder alt, nach einem ersten Erschrecken ein kurzer Moment der Befriedigung ein, ein Erkennen der machtvollen Möglichkeiten der Waffe, und die Frage drängt sich auf, wo wohl die Grenze liegt, die einen Menschen dazu bringt, auf andere zu schießen.