Von den bundesweit 2,7 Millionen Pflegebedürftigen werden 70 Prozent zu Hause gepflegt. So besagt es der kürzlich veröffentlichte Pflegereport 2016 der AOK. Foto: Fotolia/© locrifa

Gewalthandlungen in der häuslichen Pflege geschehen nicht einfach so. Jeder Übergriff ist ein Hinweis für wachsenden Kontrollverlust und Zukunftsängsten, mit denen pflegende Angehörige zu kämpfen haben. Experten fordern daher nicht nur mehr Hilfsangebote, sondern auch einen offeneren Umgang mit dem Tabuthema.

Berlin/Stuttgart - „Gerade habe ich meiner Mutter mit der Bürste auf den Kopf geschlagen, weil sie sich nicht die Haare waschen lassen wollte! Aber ich kann sie doch nicht so ungepflegt herumlaufen lassen.“ So fangen viele Telefongespräche mit Gabriele Tammen-Parr an. Es gibt aber auch andere Anrufe. Die beginnen so: „Kommen Sie, der Nachbar schreit schon wieder seine Mutter an: Du blöde Drecksau, mach endlich das Maul auf, sonst stecke ich Dich ins Heim.“

Gabriele Tammen-Parr ist Sozialpädagogin und leitet seit mehr als 15 Jahren eine der wenigen Beratungsstellen, die sich um Gewalt in der häuslichen Pflege kümmern – beim Diakonischen Werk in Berlin. Sie weiß ganz gut Bescheid über die Gefühle derer, die sich entschieden haben, den Vater oder die Mutter zu pflegen und nicht ins Heim zu geben. Von den bundesweit 2,7 Millionen Pflegebedürftigen werden 70 Prozent zu Hause gepflegt. So besagt es der kürzlich veröffentlichte Pflegereport der AOK.

Dass es in der Pflege zu Übergriffen kommen kann, ist vielen nicht bewusst

Das Ideal der aufopferungsvoll pflegenden Angehörigen wird immer noch gern gepriesen – obwohl stets Fälle bekannt werden, die zeigen, dass diese Form der Pflege lebensgefährlich werden kann: So wie im Herbst 2015, als ein 61-Jähriger aus Esslingen vom Landgericht Stuttgart wegen Mordes an seiner Mutter verurteilt wurde. Er hatte die 88-Jährige mit dem Kissen erstickt, weil er mit der Pflege der alten Frau nicht mehr zu Rande kam.

Wie kann das sein? Warum hat denn vorher niemand was gemerkt, die Nachbarn oder Freunde? Menschen, die sich seit Jahren mit der häuslichen Pflege beschäftigen, wie Gabriele Tammen-Parr, antworten dann lapidar: „Weil Gewalt in der Pflege immer noch ein Tabuthema ist.“ Pflege findet hinter verschlossenen Türen statt. Man spricht nicht drüber und schon gar nicht jemanden darauf an. Dass es zu gewalttätigen Übergriffen kommen kann, ist vielen nicht bewusst: So zeigt eine Studie des Zentrums für Qualität und Pflege (ZQP) von 2014, dass gerade mal 34 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass Gewalt gegen alte Menschen hierzulande überhaupt ein Problem ist.

Viele Übergriffe passieren unterschwellig und versteckt

Hinzu kommt, dass diese Übergriffe oft nicht offen ausgetragen werden. „Viele denken gleich an Misshandlungen, an Schubsen, ruppiges Anfassen oder an Schlagen“, sagt Tammen-Parr. Doch vieles passiert subtil, unterschwellig, versteckt. Da werden Drohungen ausgesprochen oder Dinge totgeschwiegen und Wünsche beschnitten – beispielsweise, wenn der Pflegebedürftige nach Saft verlangt und einfach keinen bekommt.

In vielen Fällen sind solche Misshandlungen auch gar nicht gewollt. Experten wie Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des ZQP, wehren sich dagegen, pflegende Angehörige zu kriminalisieren. Und auch Gabriele Tammen-Parr lehnt die typische Opfer-Täter-Aufteilung ab. „Die Menschen, die irgendwann gewalttätig gegenüber ihrer bettlägerigen Mutter oder dem dementen Vater werden, sind keine Monster.“ Die meisten fangen sehr liebevoll an mit der Pflege, wollen alles richtig machen und ständig alles unter Kontrolle haben. Schließlich muss viel beaufsichtigt werden: Der nächtliche Toilettengang, das Essen, die Körperpflege. Ebenso sind die zu Pflegenden auch nicht immer einfach: „Häufig hat man es hier mit einem richtigen Beißzahn zu tun“, sagt Tammen-Parr. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Punkt kommt, an dem die Stimmung kippt.

Pflegebedürftige werden im Bundesdurchschnitt 9,6 Jahre versorgt

Wie häufig aus liebevoller Fürsorge Wut werden kann, darüber gibt es nur Vermutungen. Lange Zeit gab es so gut wie keine statistischen Erkenntnisse darüber, wie häufig es in familiären Pflegsituationen zu Gewalt gekommen ist. Die Zahlen, auf die sich Experten heute berufen, stammen von 2003 und 2004. Damals gaben 20,9 Prozent der Befragten an, die einen Demenzkranken zu Hause pflegten, oft oder sehr oft „lauter zu werden“. 2,5 Prozent berichteten von häufigen Drohungen oder Einschüchterungen. Ein Prozent der Befragten gab an, den Pflegebedürftigen oft „härter anzufassen“.

Fragt man nach den Gründen, wird meist psychische und physische Belastung und Überforderung angegeben. Ein Mensch, der pflegebedürftig wird, ist im Bundesdurchschnitt 9,6 Jahre auf fremde Hilfe angewiesen. Eine lange Zeit, die Angehörige anfangs in ihre Entscheidung zur Pflege häufig nicht einberechnen. „Vielen macht auch der Rollentausch zu schaffen“, sagt Gabriele Tammen-Parr. Die Kinder müssen die Führungsrolle übernehmen, was von dem Elternteil aber nicht akzeptiert wird. Gemeinsame Lebensentwürfe müssen über Bord geworfen werden, was insbesondere pflegenden Ehepartnern schwerfällt: Sie müssen verarbeiten, dass der gemeinsame Ruhestand sich ab sofort zwischen Windeln wechseln und Füttern abspielt. Sätze wie „Mein Leben ist mit der Pflege ebenfalls zu Ende gegangen“, bekommt Tammen-Parr häufig von Ehepaaren in den Beratungen zu hören.

Behandeln Eltern ihre Kinder ungleich, macht sich das in der Pflege bemerkbar

Bei dem Großteil der Übergriffe spielen unverarbeitete Familienkonflikte eine Rolle. Den „Klassiker“ nennt es die Berliner Sozialpädagogin, wenn eine Tochter ihr schildert, dass sie rund um die Uhr pflegt, aber statt Dank nur Vorwürfe zu hören bekommt. Der Bruder dagegen, der nur einmal im Monat auftaucht, wird dafür überschwänglich begrüßt. „Viele Eltern haben schon von anfang an ihre Kinder ungleich behandelt – das stößt in der Pflege bitter auf.“

Dann gilt es die Notbremse zu ziehen – und sich bei Krankenkassen und kommunalen Pflegestützpunkten Unterstützung zu suchen. Die gibt es zwar – in Form von Tagespflege und Sozialdiensten –, doch das Wissen darüber ist begrenzt: Den Angaben des AOK-Pflegereports zufolge werden die Hilfsangebote der gesetzlichen Pflegeversicherung nur von wenigen genutzt. Jeder vierte Pflegehaushalt, in dem eine solche Leistung nicht in Anspruch genommen wird, bräuchte diese aber. Nicht umsonst fordert das ZQP eine Beratungsstelle für Gewalt in der er häuslichen Pflege – und zwar in jeder Stadt. Die Politik habe das Thema bislang sträflich vernachlässigt, klagt Rolf Hirsch, Facharzt für Nervenheilkunde und Begründer der Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter „Handeln statt Misshandeln“.

Doch um solche Angebote zu nutzen, müssten die Betroffenen erst einmal ihre Überforderung eingestehen – sich und anderen. Ein schwerer Schritt, für den es Mut braucht. „Die Leute schämen sich oft wegen ihrer aggressiven Gefühle“, sagt Gabriele Tammen-Parr. „Aber Schweigen und Verdrängen macht es noch schlimmer.“

Hier finden pflegende Angehörige und zu Pflegende Hilfe

Wo finden Pflegebedürftige Hilfe, die Opfer von Gewalt geworden sind?

Experten raten Betroffenen dazu, die Person, die sich ihnen gegenüber problematisch verhält, offen anzusprechen. Sie sollten deutlich machen, dass sie die Übergriffe nicht akzeptieren wollen. Eine Vertrauensperson ist ebenfalls wichtig. Passieren die Übergriffe in der stationären Pflege, sollte man die Ereignisse der Bezugspflegekraft, der Schicht- oder Wohnbereichsleitung schildern und um Lösungsvorschläge bitten. Weitere Infos gibt es beim Zentrum für Qualität in der Pflege. Akute Hilfe erhalten Betroffene beim Pflegetelefon des Bundesfamilienministeriums, 030/20 17 91 31 oder beim Krisentelefon Böblingen, 0 70 31/66 33 000. Auch die Stadt Stuttgart hat ein Notfall-Telefon: 07 11/23 18 29 55.

Wie beugen Angehörige eine Überbelastung in der Pflege vor?

Der wichtigste Schritt ist, frühzeitig erste Anzeichen bei sich selbst zu erkennen: Überlastung äußert sich in einer chronischen Müdigkeit und dem Gefühl, dass einem alles zu viel ist. Ebenfalls Warnzeichen sind eine innere Unruhe sowie permanente Gereiztheit. Hinzu kommt, dass man kaum noch Lust hat, Freunde oder Bekannte zu treffen. Auch wiederkehrende körperliche Beschwerden, wie Magen-Darm-Probleme, Kopf- oder Rückenschmerzen gehören dazu. Experten raten, sich nach Entlastungsmöglichkeiten zu erkundigen – etwa im „Ratgeber zur Pflege“ des Bundesministeriums für Gesundheit zum Pflegestärkungsgesetz. Meist fällt es Betroffenen sehr schwer, über ihre eigene Überforderung zu sprechen. Anonyme Hilfetelefone bieten Rat: Das Pflegetelefon des Bundesfamilienministeriums, 030/20 17 91 31.

Was können Angehörige tun, wenn sie Gewaltvorfälle in Pflegeheimen beobachten?

Wichtig ist, diesem Verdacht nachzugehen: Beispielsweise spricht man zunächst die pflegebedürftige Person selbst darauf an und versucht herauszufinden, wie diese die Situation wahrnimmt. Auch sollte man eine Bezugspflegekraft, Schichtleitung oder die Wohnbereichsleitung ansprechen. Zuständig sind auch Pflegedienst- oder Einrichtungsleitung, sowie der Heim- oder Angehörigenbeirat. In akuten Fällen sollte man den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder die Heimaufsichtsbehörde informieren.

Plötzlich wird ein Familienmitglied zum Pflegefall – wo erhaltenen Betroffenen Informationen?

Jeder hat ein gesetzlich verbrieftes Recht auf eine kostenlose, unabhängige Pflegeberatung: Infos gibt es im Netz unter anderem beim Bundesfamilienministerium und bei den kommunalen Pflegestützpunkten. Auch die Krankenkassen und gesetzlichen Pflegeversicherungen beraten ihre Versicherten.