Saleh Ali ist 17 und hat seine Heimat Eritrea vor ein paar Monaten verlassen Foto: Holzer

Tausende Flüchtlinge im nordfranzösischen Calais kämpfen um die Überfahrt nach Großbritannien. Bis sie ihnen gelingt, leben sie in verdreckten Lagern, unterstützt von Ehrenamtlichen. Die Stadt Calais verweist wiederum auf die Verantwortung Europas – eine hoffnungslose Lage.

Calais - Bitte keine Fotos, sagt George Lopez. Er möchte nicht, dass ein Bild von ihm an diesem Ort irgendwo im Internet auftaucht und dort von seiner Familie entdeckt wird. Einem Mädchen, das der britischen BBC ein Interview gegeben hatte, war das passiert: welche Schande! „Meine Mutter soll mich so nicht sehen: in diesem Lager, im Dreck, schlechter behandelt als ein Hund“, erklärt George in flüssigem Englisch. Seit er vor ein paar Monaten den Tschad verließ, hat seine Familie kein Lebenszeichen von ihm. Er wird sie anrufen, sobald er endlich Großbritannien erreicht hat.

Das ist das Ziel all der Flüchtlinge, die es wie George bis ins französische Calais geschafft haben: versteckt in einem Lastwagen den Ärmelkanal zu überqueren. Nur mit dieser Hoffnung, dass dann alles besser wird, erträgt er das Leben in der nordfranzösischen Hafenstadt. Es ist ein Überleben. „Ich bin 18, ich sollte in der Schule sein“, sagt George aufgebracht. „Stattdessen sitze ich in diesem Dschungel!“

„Dschungel“, so werden hier drei improvisiert errichtete Lager genannt, in denen jeweils mehrere Hundert Menschen hausen. Ohne Strom, Duschen oder Toiletten. Die Krätze hat sich ausgebreitet, manche der Flüchtlinge sind verletzt, traumatisiert, haben ihr Leben riskiert auf den Schiffen der Schleuser, denen sie viel Geld bezahlten. „Meine ganze persönliche Geschichte kann ich dir nicht erzählen“, sagt George und blickt zu Boden. „Das würde zwei Stunden dauern, und am Ende würdest du weinen. Es ist hart.“

Die meisten hier stammen aus dem Sudan, die anderen überwiegend aus Eritrea, Afghanistan, Syrien. Fast alle sind junge Männer um die 20, manche aber auch noch halbe Kinder wie der zierliche Robel Ogbay aus Eritrea. Wenn er lächelt, zeigt der 15-Jährige blitzend weiße Zähne, und er lächelt oft. Seit einem Jahr ist er unterwegs, zu Fuß, per Schiff, mit dem Zug. Nur einsilbig beschreibt er die Stationen seiner Odyssee. Und: „Bitte keine Fotos machen.“

Einen Hydranten an der Straße haben die Männer zu einem Brunnen umfunktioniert, um Wasser in Kanister zu füllen. Von Hilfsorganisationen erhalten sie Zelte und Decken, Kleidung zum Wechseln, Schuhe, ein paar Waschutensilien. Einmal am Tag geben die Ehrenamtlichen der Vereine Salam und Auberge des migrants (Herberge der Migranten) ein warmes Essen aus – 700 Mahlzeiten, die fünf Festangestellte kochen.

„Eigentlich nehmen wir dem Staat seine Aufgabe ab“, sagt François Guennoc von Auberge des migrants. Aber er ertrage die Vorstellung schlecht, dass in seinem Land Kinder, Frauen und Männer draußen schlafen und hungern müssen. Seit 2002 der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy auf Druck Großbritanniens ein Auffanglager des Roten Kreuzes schließen ließ, bleiben ihnen nur besetzte Abbruchhäuser oder Industrieruinen. „Die Regierung will keinen ,attraktiven‘ Empfang für die Flüchtlinge schaffen. Sie sind illegal, also offiziell gar nicht da.“ Den Vorwurf, die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer ziehe immer noch mehr an, weist Guennoc zurück: „Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem angeblichen Komfort und der Menge der Flüchtlinge. Seit Monaten wächst diese, während sich die Situation verschlechtert.“

Die Hafenstadt Calais, von der aus Fähren ins britische Dover übersetzen, dient seit langem als Durchgangsstation für Migranten, die vor Armut, Krieg oder Verfolgung fliehen. Doch in diesem Jahr ist ihre Zahl gestiegen auf schätzungsweise 2000, darunter etwa 120 Frauen und Kinder. In Großbritannien, so hoffen sie, finden sie leichter Arbeit und haben bessere Chancen mit einem Antrag auf Asyl. Doch das Land gehört nicht dem Schengen-Raum an, die Einreisekontrollen sind streng. Wenn ein Lastwagenfahrer mit menschlicher „Fracht“ erwischt wird, droht ihm eine Strafe als „Schleuser“. Meist versuchen die Migranten nachts, sich in den Lkw zu verstecken oder rasch aufzuspringen, wenn sie halten. Vor ein paar Tagen wurde eine 16-jährige Afghanin auf der Autobahn dabei überfahren. „Viele versuchen es monatelang, aber irgendwann schaffen es die meisten“, sagt François Guennoc. Ab und zu erhält er einen Anruf von einem einstigen Schützling aus Birmingham oder Glasgow. „Manche geben aber auch auf und bleiben in Calais.“

Die 75 000-Einwohner-Stadt leidet unter dem Ansturm. Ihre Bewohner sind gespalten in jene, die Mitleid haben, die spenden oder helfen. Und jene, die sich gestört fühlen und über wachsende Unsicherheit klagen. Supermärkte machten Schlagzeilen, die Migranten den Zutritt verwehrten. Mehrmals wurde der Campingbus einer Ärzte-Hilfsorganisation angezündet. Auch wenn die Flüchtlinge kaum Französisch sprechen, so wissen sie die feindseligen Blicke doch zu deuten.

Eine Situation, die Marine Le Pen, Chefin des rechtspopulistischen Front National, nutzen will, die im wirtschaftlich ausgebluteten Norden Frankreichs viele Anhänger hat. Am Freitag kam sie nach Calais, um den Stadtbewohnern „ihre Solidarität auszudrücken“ und ihre Forderungen nach Schließung der Grenzen in Europa und strengeren Asylregeln zu wiederholen.

Die Menschen seien nicht rassistisch, sie hätten nur genug, verteidigt sie Philippe Mignonet, stellvertretender Bürgermeister und zuständig für die Sicherheit in der Stadt. Ein globales Problem müsse auch als solches angepackt werden, fordert der konservative Lokalpolitiker: in Form einer echten Entwicklungszusammenarbeit mit den Herkunftsländern der Migranten. Mit Informationskampagnen der britischen Botschaft, um sie von der gefahrvollen Reise ins Ungewisse abzuhalten. Mit einer Strategie der EU und des französischen Staates. Bürgermeisterin Natacha Bouchard schlage ein Aufnahmezentrum für 500 Personen auf Kosten des Staates oder der EU vor mit sanitären Einrichtungen, einer Küche, Schlafplätzen zumindest für die Frauen und Kinder. „Der Innenminister überlegt“, so Mignonet. „Aber wie lange? Der Winter steht bevor!“

Mit dem Regen und der Kälte nehmen die Spannungen in den Lagern zu. Dort herrscht zwar große Solidarität: Die Männer sitzen gemeinsam um Lagerfeuer, auf denen sie Reis in großen Töpfen kochen. Aber nachdem vor wenigen Tagen erst einige Hundert Flüchtlinge gewaltsam auf mehrere Lastwagen gestürmt waren und es kurz darauf zu Schlägereien zwischen Männern aus Äthiopien und Eritrea kam, musste die Polizei mit Tränengas eingreifen. Innenminister Bernard Cazeneuve kündigte die Verstärkung der 350 Polizisten und Gendarmen vor Ort mit weiteren 100 Männern an.

Marie-Christine Deschamps von der katholischen Hilfsorganisation Secours Catholique, die seit Jahren alle drei Wochen eine Kleiderausgabe organisiert, registriert zunehmende Spannungen. „Heute sind die Flüchtlinge zu allem bereit, um weiterzukommen.“ In einer Halle ordnet sie die Spendengaben, die aus ganz Frankreich kommen: Hier stapeln sich Handtücher, Mützen, Jeans und Sportschuhe. Aber sie reichen nie. „Früher kamen 300 Personen, heute sind es doppelt so viele“, erzählt die Rentnerin. Und obwohl die Ausgabe mit Frühstück erst am späten Vormittag beginnt, stehen die ersten ab 2 Uhr nachts in der Schlange.

„Das hilft uns, aber wir sind nicht wegen des Essens hier“, sagt der 25-jährige Sudanese Juma Habib. „Wir wollen eine Ausbildung, arbeiten. Und irgendwann zurück nach Hause.“ Er zählt seine Tage im „Dschungel“: Es sind jetzt 23. Aber an jedem einzelnen versucht er die Überfahrt. Und irgendwann, so hofft er, beginnt dann auch für ihn ein richtiges Leben. Eines, das mehr ist als Überleben.