Geschichte trifft Comic: Die Machtergreifung Hitlers, wie sie Barbara Yelin in „Irmina“ zeigt Foto: Yelin

Wie eine mutige Frau zur NS-Mitläuferin wird: Barbara Yelin hat in der Stadtbibliothek ihren Comicroman „Irmina“ vorgestellt, der ein finsteres Kapitel deutscher Geschichte in eine leichte Form verpackt.

Stuttgart - Diese Irmina ist eine mutige, eigenwillige Frau. 1934 geht die junge Stuttgarterin nach London, macht dort eine Ausbildung zur Stenotypistin. Auf einer Party lernt sie den schwarzen, aus Barbados stammenden Studenten Howard kennen, verteidigt ihn gegen verbale Angriffe von Rassisten, verliebt sich in ihn.

Sie verspricht ihm wiederzukommen, als sie im März 1935 zurück nach Deutschland muss, weil ihr ihre Familie kein Geld mehr schicken kann – die NS-Regierung hat den Devisenhandel eingeschränkt. Doch sie kommt nicht wieder, heiratet stattdessen den jungen Architekten Gregor, der überzeugter Nazi ist und von der Entlassung jüdischer Professoren und den gigantomanischen Bauprojekten des Regimes profitiert. Irmina wird zur Hausfrau und Mutter, von ihrem früheren Mut und Wunsch nach Eigenständigkeit ist bald nichts mehr übrig.

NS-Geschichte in Comicform? Dagegen mögen in Deutschland immer noch viele Menschen Vorbehalte haben. Barbara Yelins „Irmina“ zeigt indes eindrucksvoll, wie geeignet dieses Medium für die Vermittlung auch anspruchsvoller historischer Themen sein kann. Am Dienstagabend hat die Münchner Illustratorin ihren im Oktober veröffentlichten, 288-seitigen Comicroman vor etwa 70 Besuchern im voll besetzten Café LesArt in der Stuttgarter Stadtbibliothek vorgestellt.

Die Inspiration zur Geschichte habe sie im Familienumfeld gefunden, erzählt Yelin, in Tagebüchern und Briefen aus dem Nachlass ihrer Großmutter. „Ich wollte aber bewusst keine Biografie machen, sondern einen Roman.“ Deswegen habe sie zusätzlich historische Recherchen angestellt und sich mit literarischer Freiheit von der biografischen Vorlage entfernt – „die Quellen aus dem Nachlass lieferten dabei Puzzleteile“. Herausgekommen ist ein Comicroman, wie er sowohl in seiner erzählerischen Kraft als auch der differenzierten psychologischen Zeichnung seiner Figuren selten ist.

Für die Lesung werden Abschnitte von „Irmina“ an die Wand projiziert, Yelin liest dazu die Sprechblasentexte, immer wieder unterbrochen von Erklärungen zur Komposition der Bilder und zu Hintergründen der Entstehung. Vier Jahre lang arbeitete sie an dem Buch, bei den intensiven Recherchen wurde sie von dem Historiker Alexander Korb unterstützt, Direktor des Stanley Burton Center for Holocaust and Genocide Studies im britischen Leicester. Korb, der auch ein Nachwort für „Irmina“ verfasste, ist bei der Lesung dabei. Viel habe er nicht zu tun gehabt, sagt er, „an Barbara ist eine Historikerin verloren gegangen.“

Was „Irmina“ mithin so herausragend macht: wie subtil und nachvollziehbar der Comic den Wandel einer eigentlich feministisch gesinnten Frau zur Mitläuferin macht, einer Frau, die für ihr privates Glück das Nazi-Regime erst einfach in Kauf nimmt, sich arrangiert, dann aber schrittweise die NS-Propaganda und deren Antisemitismus verinnerlicht. Die Protagonistin mag keine aktive Täterin sein, aber sie ist doch aktiv darin, das System am Laufen zu halten.

Wie sie während der Reichspogromnacht 1938 einfach den Vorhang in ihrer Wohnung zuzieht, gehört zu den stärksten der gezeigten Szenen. „Wegschauen ist eine aktive Entscheidung“, sagt Yelin.

So streift „Irmina“ im Grunde auch die Historikerdebatten um die Rolle „ganz normaler Deutscher“ beim Holocaust, aber auch die Thesen Götz Alys zur Gefälligkeits- und Zustimmungsdiktatur. Korb lobt darüber hinaus Yelins Behandlung des Themas Familie, die Darstellung der im Zuge der immer radikaleren NS-Politik zunehmenden, nicht ausgesprochenen Spannungen zwischen Irmina und Georg. „Das hat auch mir die Augen geöffnet: Wie sich die Juden-verfolgung auf Familien auswirkte, ist ein noch völlig untererforschter Bereich“, sagt Korb.

Angeregt und begeistert sind auch viele Menschen im Publikum, auch solche, die nach eigenen Angaben bisher wenig mit Comics am Hut hatten. „Zum ersten Mal ist mir klargeworden, wie gespalten eine Biografie in dieser Zeit sein konnte“, so eine Besucherin.