1916: Französische Sanitäter kümmern sich um Schwerverletzte in dem von deutschen Truppen völlig zerstörten Fort de Vaux bei Verdun. Foto: AFP

Traumatische Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Angst belasten die Psyche und prägen das Erbgut von Menschen. Sie verändern sogar die Gene ihrer Kinder und Enkel und bestimmen deren Leben, Denken und Verhalten.

Stuttgart - Was war zuerst da – die Henne oder das Ei? Für Wissenschaften wie die Biologie, Medizin oder Psychologie ist das eine wichtige Frage. Es geht dabei nicht um ein nahrhaftes Produkt und seinen Erzeuger, sondern darum, was beim Menschen angeboren und was erworben ist. Vor allem die Epigenetik, ein noch relativ junges Teilgebiet der Biologie, beschäftigt sich mit diesem Thema. Begründet hat sie der britische Entwicklungsbiologe und Genetiker Conrad Hal Waddington (1905-1975), der den Begriff Epigenetik 1942 erstmals verwendete.

Weitervererbte Traumata: Wie ist das möglich?

Eine Entdeckung der Gen-Forscher ist besonders faszinierend: Traumatische Erlebnisse und Schicksalsschläge von Großeltern und Eltern werden an Kinder, Enkel und Urenkel weitervererbt, obwohl diese sie gar nicht erlebt haben. Wie ist so etwas möglich?

Deutsche und Franzosen, die 1916 vor Verdun gegeneinander kämpften, Zivilisten, die im Zweiten Weltkrieg die Bombenangriffe auf deutsche Städte durchlitten, amerikanische Soldaten, die in Vietnam, im Irak und in Afghanistan im Einsatz waren – sie alle haben eins gemeinsam: Ihre Psyche versucht aus Selbstschutz die traumatischen Erlebnisse und grauenhaften Bilder in ihren Köpfen zu verdrängen.

Die Erinnerungen verschwinden aber nicht einfach, sondern sind weiterhin im Unterbewusstsein da und belasten die psychische Stabilität. Mehr noch: Sie verändern das Erbgut und beeinflussen das ganze Leben – das der Betroffenen genauso wie das ihrer Nachkommen.

Angeboren oder erworben?

In der Verhaltenspsychologie gibt es zwei konträre Theorien: Die Vertreter des sogenannten Nativismus (von lateinisch „nativus“ angeboren, natürlich) glauben, dass Begabungen und Fähigkeiten größtenteils angeboren oder von Geburt an im Gehirn verankert sind. Dagegen behaupten die Anhänger der „Tabula-rasa“-Theorie (lateinisch für unbeschriebenes Blatt, leere Tafel), dass das Gehirn nur wenige angeborene Fähigkeiten habe und fast alles durch Interaktion mit der Umwelt erlernen müsse.

In der modernen Verhaltensforschung hat sich ein Sowohl-als-auch durchgesetzt: Jedes Verhalten und jeder Charakterzug hat eine genetische Grundlage, gleichzeitig werden sie aber durch die Umwelt beeinflusst. Die Gene bilden das Fundament, das sich in Wechselwirkung mit der Umwelt, mit eigenen Erfahrungen und durch Lernprozesse ständig weiterentwickelt. Dabei wird die Leistungsfähigkeit des Gehirns optimiert und der Mensch fit gemacht für die Herausforderungen des Lebens. Er wächst – wie das Sprichwort schon sagt – an seinen Aufgaben.

Interaktion von Genen und Umwelt

Der Mensch ist allerdings kein Gen-Roboter oder ein Sklave seiner Erbanlagen. „Wir werden nicht von unseren Genen gesteuert“, sagt Olaf Rieß, Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen. „Gesellschaftliche Situationen und bestimmte Umstände beeinflussen unser Verhalten erheblich.“

Es sind nicht einzelne Gene, sondern eine Kombination von Genen und äußeren Einflüssen, die Persönlichkeit, Denken und Verhalten prägen. Gemäß dieser Gen-Umwelt-Interaktion können Gene Umweltfaktoren verstärken oder abschwächen. Umgekehrt können Umweltfaktoren wie Erziehung, soziale Kontakte oder bestimmte Ereignisse die Ausprägung von Genen beeinflussen.

Biologie und Biografie

„Heute besteht kein Zweifel mehr daran“, sagt der Mikrobiologe Alexander S. Kekulé, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, „dass sowohl ‚Nature‘ als auch ‚Nurture‘ – genetische Veranlagung und Umwelt – zur Entwicklung beitragen.“

Das bestätigt auch der Mediziner Bernhard Horsthemke, der das Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Essen leitet. Ein komplexes Zusammenspiel von Veranlagung, Umwelteinflüssen, Erziehung und Lebensweise bestimme unser Verhalten, nicht einzelne Gen-Varianten. „Die Umwelt hinterlässt in unserem Genom Spuren – wie wir uns ernähren oder ob wir gestresst sind. Außerdem spielt die Epigenetik mit ihren vorgeburtlichen und frühkindlichen Entwicklungsbahnen eine große Rolle.“

Anna-Katharina Braun, Professorin für Entwicklungs-Neurobiologie an der Universität Magdeburg, veranschaulicht diese Wechselbeziehung so: „Stellt man sich die Gene als Tasten eines Klaviers vor, dann hängt es vom Pianisten – der Umwelt – ab, welche Tasten bzw. Gene an- oder abgeschaltet werden. Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt bestimmt also das Ausmaß und die Richtung, in die das Wachstum der Nervenzellen und der Synapsen gesteuert werden kann.“

Das menschliche Genom

Erbgut, Gene, Epigenetik

Das Erbgut des Menschen - auch Genom genannt - besteht aus mehr als 22 000 Genen und enthält sämtliche Erbinformationen. Warum beispielsweise ein Individuum schwarze und keine blonden Haare hat, wieso seine Augen grau und nicht braun sind oder weshalb sein Intelligenzquotient höher ist als der anderer.

Mit der Genetik lässt sich vieles erklären, aber eben nicht alles. So muss sie etwa bei der Frage passen, warum der eine mit 60 Jahren dement wird und der andere schlecht mit Stress umgehen kann. Oder warum zwei Menschen das gleiche Krebs-Gen haben, aber nur einer von ihnen an einem Tumor erkrankt. Um das zu erklären, braucht es die Epigenetik.

Der Begriff setzt sich zusammen aus den Wörtern Genetik (griechisch „génesis“ – Abstammung, Ursprung) und Epigenese (griechisch „epigenesis“ – nachträgliche Entstehung). Die Epigenetik fügt zwei fundamentale Bereiche zu einer Einheit zusammen: Umweltfaktoren zum einen, Gene und angeborene Merkmale zum anderen. Die Medizin spricht auch von konnatalen Merkmalen, die im Mutterleib oder während der Geburt erworben werden. Äußere Einflüsse können sie regulieren, so dass ein Gen unter ganz bestimmten Umständen aktiviert oder deaktiviert ist.

Über Generationen vererbt

Traumatische Erlebnisse können Verhaltensauffälligkeiten auslösen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Hinter diesen psychischen Störungen stecken vielfach physiologische Vorgänge. „Es gibt Erkrankungen wie zum Beispiel bipolare Störungen, die familiär auftreten, aber nicht auf ein bestimmtes Gen zurückzuführen sind“, erklärt die Hirnforscherin Isabelle Mansuy vom Institut für Hirnforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Die Umwelt hinterlasse ihre Spuren im Gehirn, in den Organen und Zellen. „So werden diese Spuren teilweise an die nächste Generation weitergegeben.“

Wie Schicksalsschläge Gene steuern

Die Rolle der DNA

Die Epigenetik untersucht die Regulation von Genen. Sie fragt, wann, warum und wie Gene plötzlich aktiv werden und weshalb sie in einem anderen Augenblick in eine Art Passivmodus verfallen. Diese Regelungsmechanismen haben mit biochemischen Prozessen in den Zellen und den in ihnen gespeicherten Informationen zu tun.

Zellen sind die kleinste biologische Einheit jedes Organismus. Der Mensch besteht aus Billionen von Zellen. Erst durch ihr perfektes Zusammenspiel entsteht Leben. Damit die Zellen wissen, wie sie aussehen und funktionieren sollen, enthalten sie in verschlüsselter Form Informationen, die sich in ihrem Zellkern befinden. Diese Infos, die für ein bestimmtes Merkmal des Organismus verantwortlich sind, nennt man Gen.

Der Gen-Code, die Erbinformationen im Zellkern, ist auf den Chromosomen gespeichert. Jede menschliche Zelle besteht aus 46 solcher Chromosomen: 23 väterliche und 23 mütterliche Erbgutabschnitte, die in der befruchteten Eizelle zusammenfinden. Man muss sich Chromosomen als lange, fadenförmige Gebilde vorstellen, die aus DNA (Desoxyribonukleinsäure; englisch: DNA für „Deoxyribonucleic acid“) und Proteinen (Eiweißmolekülen) bestehen.

Posttraumatische Belastungsstörung

Wie Genetik und Traumata konkret zusammenhängen, soll folgendes Beispiel illustrieren: Drei Bundeswehrsoldaten geraten in Afghanistan in einen Hinterhalt der Taliban. Dabei wird ein Soldat schwer verwundet, ein zweiter stirbt vor Ort. Der Dritte bleibt unverletzt, muss aber mit ansehen, wie sein Kamerad verblutet. Den anderen kann er retten. Nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt ist, geht er wegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (auf Englisch „Posttraumatic stress disorder“, PTSD) zum Therapie und arbeitet fortan in der Verwaltung der Streitkräfte.

Das schreckliche Kriegserlebnis – vorbei und vergessen? Keineswegs. Das Psychotrauma hat sich in sein Erbgut eingebrannt. Die seelische Verletzung ist nicht nur auf einmalige Reizsignale (Schüsse, Explosionen, Schmerzensschreie, Angst, Stress) beschränkt, sondern wirkt dauerhaft. Andere Reize, die den Erlebnissen auf banale Weise ähneln wie der Knall eines Luftballons, der Schrei eines Kindes oder eine Schnittwunde können den epigenetischen Schalter umlegen, so dass der Betroffene aus unerklärlichen Gründen plötzlich austickt.

Unbewusste Weitergabe von Traumata

Sollte der Soldat irgendwann Kinder zeugen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er sein Trauma an sie weiterreicht. Psychotraumatologen bezeichnen diese überaus komplexen Vorgänge auch als transgenerationale Traumatisierung: eine unbewusste Weitergabe von seelischen Verwundungen. „Wenn die Eltern vom Krieg betroffen waren, dann haben ihre Kinder ein signifikant höheres Risiko, eine Trauma-Folgestörung zu entwickeln“, erläutert der Psychotraumatologe Günther H. Seidler.

Depression, Angstzustände und Panikattacken werden indes nicht nur auf der Gen-Spur weitergegeben. Psychische Eigenschaften und alltägliche Handlungsmuster werden auch interaktionell - als ein wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln von Personen übertragen. Seiler zufolge prägt das Verhalten von Eltern und Großeltern das Verhalten der Kinder und Enkel. Wenn ein Elternteil wegen eines unverarbeiteten Traumas latent in Alarmbereitschaft sei und bei der kleinsten Anspannung durchdrehe, werde dies unbewusst an die Kinder weitergegeben.

Lebenslanger seelischer Ballast

Menschen tragen häufig ihr Leben lang seelischen Ballast mit sich herum. Die Schreckensbilder, die Väter aus den Weltkriegen mit nach Hause brachten, haben sie an ihre Kinder, Enkel und Urenkel tradiert. Das Grauen der Konzentrationslager ist in den Genen und im Verhalten der Nachkommen der Holocaust-Opfer tief verwurzelt.

Und genauso werden die Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Tod syrische Flüchtlinge und ihre Kinder noch lange Zeit traumatisieren. „Generationen von Menschen wachsen heran“, sagt Psychiater Seidler, „die über lange Zeit geschädigt sein werden.“