Versuchsfelder nahe Magdeburg, auf denen alte Getreidesorten gezüchtet werden Foto: IPK

In einem gut gesicherten Forschungskomplex in Sachsen-Anhalt hüten die Mitarbeiter einen Schatz, der mit Gold und Silber nicht aufzuwiegen ist. Einen Teil der eisernen Reserve der Menschheit an den wichtigsten Nutzpflanzensorten.

Gatersleben - Dort, wo die Zukunft allen Lebens auf Erden lagert, ist es bitterkalt. Die rot leuchtende Digitalanzeige über Kühlkammer Nummer 3 des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben zeigt minus 18 Grad Celsius. Andreas Börner legt einen armlangen Metallhebel um, und eine graue Sicherheitstür öffnet sich. Dahinter liegt eine Mischung aus Hochsicherheitstrakt und Omas Speisekammer. „Eintreten“, sagt Börner und haucht beim Sprechen weiße Eiskristalle ins Neonlicht.

Penibel aufgereiht lagern hier auf meterhohen Metallregalen normale Einmachgläser, Marke Weck. Eins neben dem anderen. Börner reckt sich ein wenig, greift mitten hinein und zieht eines heraus. „Was haben wir denn da? Ah, Ägilops tauschii.“ Das Korn in Börners Händen ist ein Urahn des heutigen Brotweizens – neben Mais und Reis die dritte Säule in der Ernährung der Menschheit und in Europa die wichtigste Kulturpflanze.

Einige Hundert Körner oder Samen lagern in jedem Glas in Kühlkammer Nummer 3. Dazu gibt es noch zwei luftdicht verschweißte Kleinstpackungen. Eine davon wird in Norwegen verwahrt – in einem atombombensicheren Stollen nahe Spitzbergen. Sollte eine verheerende Naturkatastrophe oder ein Schädling die weltweiten Vorräte irgendeiner Getreide-, Obst- oder Gemüseart vernichten, würde aus den in Gatersleben lagernden Körnern der Neustart der weltweiten Landwirtschaft organisiert werden können. „Hier liegt die eiserne Reserve für unsere zukünftige Ernährung“, sagt Börner, der die Genbank seit Jahren managt.

Im weltweiten Verbund der Genbanken kommt dem IPK nahe Quedlinburg zentrale Bedeutung zu. Der von Versuchsfeldern umrahmte und speziell gesicherte Gebäudekomplex in der Magdeburger Börde ist die mit Abstand größte Samen-Sammelstelle in Europa.

Von den rund 7000 Nutzpflanzensorten weltweit lagern 3500 Sorten am Standort. 150 000 Proben bewahren die Forscher insgesamt in ihren Schränken und Kammern auf. Darunter sind auch „Schätze“ wie ein spezieller Hartweizen von 1948 aus Palermo, ohne den die weltweite Nudelproduktion eingestellt werden könnte, oder Tausende Proben von Weizen- und Gerstenkörnern, die eine Äthiopien-Expedition in den 1970er Jahren nach Gatersleben brachte. Äthiopien gilt als Keimzelle moderner Nutzpflanzen. Kaffee und Hirse beispielsweise haben sich hier vor Tausenden Jahren aus Wildformen entwickelt.

Um die genetische Vielfalt zu erhalten, wird ein ziemlicher Aufwand getrieben. Mit knapp 30 Millionen Euro finanziert der deutsche Staat jedes Jahr die Genbank. Auch weil die Bedeutung der Einrichtung steigt. Immerhin schwindet die Artenvielfalt im Pflanzen- und Tierreich rapide, seit der Mensch massiv in die Kulturräume eingreift. In der Landwirtschaft ist Uniformismus zum System geworden ist. Und zur Gefahr. 50 Prozent der weltweiten Kalorienproduktion wird heute ausschließlich von drei Sorten getragen – Weizen, Mais und Reis. Die dreißig wichtigsten Sorten ernähren die Weltbevölkerung quasi komplett.

Mit ihnen die Nahrungsmittelproduktion weiter zu steigern wird aber immer schwieriger. Während es den Bauern in den vergangenen 70 Jahren gelang, jedes Jahr deutlich mehr Korn von ihren Feldern zu holen, sinkt der Zuwachs bei den Hektarerträgen seit Mitte der 1990er Jahre. Die Hochleistungssorten seien am Limit, sagen viele Forscher. Die grüne Revolution – also jener von besserem Dünger, mehr Traktoren, einer steigenden Anbaufläche und Top-Saatgut getragene Landwirtschaftsboom der Nachkriegszeit – schwächelt. Klimawandel und Insektenplagen tun ein Übriges. Nahrungsmittel werden knapp.

Hier kommen die Genbanken ins Spiel. Uralt-Sorten wie der Aegilops tauschii oder der italienische Spaghetti-Weizen, den Forscher Börner in seiner Samen-Bibliothek lagert, verfügen mitunter über wertvolle Resistenz-Gene gegen Schädlinge, die moderne Pflanzen längst verloren haben. Sie sind nicht selten viel dürreresistenter als ihre hochgezüchteten Nachkommen oder verlieren ihre Körner nicht so leicht im Wind. Sind die alten Sorten also ein Rettungsanker für die immer schwieriger werdende Welternährung?

Zumindest sei „eine möglichst große genetische Diversität ein entscheidender Baustein zukünftiger Züchtungserfolge“, sagt Andreas Graner, Geschäftsführender Direktor des IPK. In Genbanken gehe es um nichts weniger als um die Sicherstellung der „Grundlagen der Welternährung“.

In Gatersleben arbeiten daran allein 65 Wissenschaftler. In weißen Kitteln und mit Schutzhandschuhen prüfen sie die Keimfähigkeit der Körner, verlesen mit Pinzetten Saatgut, heften Barcodes auf neue Sorten oder verschicken Proben an andere Institute. Auf den Feldern und in den Gewächshäusern in der Umgebung harken und rechen sie, um Kartoffel, Minze, Tomate und Roggen zu vermehren, umgeben von roten Mauerbienen, die sich um die Bestäubung kümmern.

Die Arbeit ist ein permanentes Anrennen gegen die Zeit. Denn trotz Dauerkühlung tief unter null bleiben die Samen maximal einige Jahrzehnte intakt. Schwierige Kandidaten – beispielsweise Gemüsesorten – verlieren ihre Keimfähigkeit schon nach wenigen Jahren. So genau weiß das keiner. „Die Natur spielt uns immer wieder einen Streich“, sagt Genbank-Manager Börner. Lieber zu früh vermehren als zu spät, lautet denn auch die Maxime der IPK-Mitarbeiter. Einzelne Arten habe man dennoch ab und an schon verloren, heißt es. Man war mit der Versämung schlicht zu spät dran.

Dafür, dass die genetische Vielfalt der Erde erhalten bleibt, arbeiten mittlerweile auch Privatleute. Ähnlich wie andere Forscher oder Genbanken erhalten sie Körner und Samen kostenlos für die Nachzucht. Wer ein „berechtigtes Interesse“ habe, bekomme die Proben, sagt Börner. Über 30 000 Päckchen verschickt das IPK mittlerweile – hauptsächlich ins Ausland.

Besonders asiatische Staaten – allen voran China und Indien – reißen den deutschen Forschungseinrichtungen ihren Genschatz aus den Händen. Obwohl – wie es hinter den Kulissen heißt – wenig aus diesen Ländern in hiesige Genbanken zurückwandert.

Über die Gründe der steigenden Samen-Sammelwut Asiens kann Börner nur spekulieren. „Ihre Denkweise könnte sein, dass derjenige, der die wichtigsten genetischen Ressourcen besitzt, künftig die Macht über die Ernährung der eigenen Bevölkerung und der Menschheit besitzt“, sagt er. Und das bedeute auch, „weltpolitische Macht“ zu haben.