Bildungsforscher Burchardt kritisiert das isolierte Lernen in der Gemeinschaftsschule. Foto: dpa

Die Diskussion um Sinn oder Unsinn der Gemeinschaftsschule verschärft sich: Der Kölner Bildungsforscher und Pisa-Kritiker Matthias Burchardt wirft der Landesregierung massive Fehler vor.

- Herr Burchardt, es hat zuletzt viel Wirbel um die Gemeinschaftsschule Tübingen gegeben, von der ein Gutachten besagt, dass sie längst nicht das bringt, was sich Grün-Rot von ihr erhofft. Wie schätzen Sie das ein?
Das Gutachten ist für erfahrene Lehrer und nachdenkliche Wissenschaftler keine besonders große Überraschung. Aber es ist hilfreich, dass mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung, also mit der Beobachtung durch Wissenschaftler vor Ort, nachgewiesen wird, dass bestimmte pädagogische Maßnahmen nicht so funktionieren, wie es der Öffentlichkeit versprochen wurde.
Was heißt das konkret?
Man hat über längere Zeit hinweg die Arbeitsabläufe in zwei sechsten Klassen beobachtet. Also: wie die Lehrer korrigieren, welche Arbeitsformen es gibt, wie die Schüler reagieren. Ziel war es, mit dem Gutachten die Arbeitsabläufe optimieren zu können. Aber das Ergebnis ist wenig verheißungsvoll für diesen Schultyp, auch wenn die Landesregierung das sicher ungern hört.
Der Schulleiter hat die Kritik an dem Projekt Gemeinschaftsschule vehement zurückgewiesen, auch Kultusminister Stoch verwahrt sich gegen Vorwürfe. Wie ist Ihre Einschätzung?
Man muss genau schauen, was von den Erkenntnissen des Gutachtens nur die Situation in Tübingen betrifft, da sage ich ganz klar: Wer etwas Neues probiert, darf Fehler machen. Man kann aber auch sehen, welche grundsätzlichen Probleme es in dieser neuen Unterrichtsform gibt, was also zwangsläufig auch an anderen Gemeinschaftsschulen zu Problemen führen muss. Insofern halte ich aktuell die Strategie der Kultuspolitiker für fahrlässig, die Kritiker anzugreifen. Der Skandal besteht nicht darin, dass das Gutachten herausgekommen ist, sondern was herausgekommen ist.
Was ist aus Ihrer Sicht das zentrale Ergebnis?
Das Scheitern der neuen Lernkultur.
Im Klartext?
Lehrer und Schüler sind vielfach mit den neuen Lernformen überfordert. In dem Gutachten wird zum Beispiel geschildert, wie die Schüler weitgehend damit beschäftigt sind, Lernpakete abzuarbeiten. Das sind also kopierte Zettel oder Aufgaben, die man selbstständig und ohne Lehrer oder einen Mitschüler erledigt, das Ganze idealerweise in hohem Tempo. Die uns allen aus der eigenen Schulzeit vertraute Klassensituation, bei der ein Lehrer vorne steht und den Schülern etwas erklärt oder mit ihnen diskutiertet, so dass eine Gemeinschaftssituation entsteht, bildet nicht mehr den Kern des pädagogischen Handelns. Stattdessen ist jeder Schüler im Lernen isoliert. Der Lehrer kontrolliert nur, wie viele Aufgabenpakete erledigt wurden, aber nicht, was tatsächlich gelernt worden ist. Das Gutachten zeigt, dass die Lehrer es nicht mal geschafft haben, die inhaltlichen Fehler in den Lernpaketen zu korrigieren. Der Schüler weiß also nicht, ob er es richtig oder falsch gemacht hat.
Was ist die Konsequenz?
Aus meiner Sicht müsste dieser Irrweg unverzüglich aufgegeben werden. Das Gutachten schlägt dagegen vor, den Einsatz der neuen Lernkultur noch mehr zu verstärken. Aber es darf doch nicht darum gehen, mit allen Mitteln eine neue Methode zum Erfolg zu bringen, sondern den Kindern muss zum Erfolg verholfen werden. Das schafft man auf den bewährten Wegen des Schulsystems mit Sicherheit besser als auf diesen Pfaden in einer Gemeinschaftsschule. Die Politik müsste eingestehen, dass dieses System gescheitert ist und man zur traditionellen Form der Pädagogik zurückkehren muss.
Grün-Rot wird Ihnen heftig widersprechen.
Bevor man weitere Gemeinschaftsschulen genehmigen sollte, würde ich unbedingt ein Moratorium empfehlen, in dem man alle Anforderungen und Konsequenzen dieser neuen Schulform abschätzt und der Frage nachgeht: Wie leistungsfähig ist das System wirklich? Dazu müsste man die Leistungen an dieser Schule mit traditionellen Schulen vergleichen und damit überprüfen, ob die pädagogischen Versprechen erfüllt werden. Das ist bisher aber nicht erfolgt. Solange dies jedoch nicht geschehen ist, halte ich es für sehr gefährlich, eine ganze Generation von Schülern einem unausgegorenen System anzuvertrauen, in dem vieles darauf hindeutet, dass es scheitern muss. Einerseits sind sich viele Erziehungswissenschaftler einig, dass diese Schulform Kinder überfordert. Dies wird übrigens auch im Gutachten als Kritikpunkt angeführt. Andererseits bestätigen erfahrene Lehrer, dass man in einem Klassensystem bessere Leistungen erzielt als hiermit. Das alte System war besser als das jetzige, es hat das Land stark gemacht.
Ist die Gemeinschaftsschule also ein ideologiegetriebenes Projekt von Grün-Rot?
Ich würde Ja sagen. Wenn Grün-Rot diesen Vorwurf zurückweist, muss diese Regierung zulassen, dass das System Gemeinschaftsschule neutral und kritisch evaluiert wird und man bei negativen Ergebnissen die weitere Durchsetzung unterlässt. Bisher sehe ich dazu keine Bereitschaft. Es ist erschreckend, dass man nicht in der Sache argumentiert, sondern Kritiker persönlich attackiert.
Wie gefährlich ist das für die Schüler?
Das Gutachten sagt klar, dass eine taugliche Leistungserfassung der Bildungsziele bisher nicht wirklich stattfinden konnte. Das bedeutet: Man kann gute Noten bekommen, obwohl man nicht viel kann, aber viele Lernpakete in kurzer Zeit abarbeitet. Da werden Schüler also letztendlich betrogen. Die Folgen der Entwicklung werden sich erst in einigen Jahren bemerkbar machen, es könnte einen großen Verlust an Bildungsqualität, Ausbildungsfähigkeit und Studierfähigkeit nach sich ziehen. Wenn die Regierung das Gegenteil beweisen kann, ziehe ich den Hut und lasse mich vom Gegenteil überzeugen.
Was würden Sie als Eltern tun?
Ich wäre skeptisch gegenüber dem politischen Versprechen, dass die Gemeinschaftsschule das allein selig Machende ist. Allein die Tristesse des isolierten Arbeitens halte ich nicht für ein glückliches Schulklima. Ich würde mir deshalb als Eltern zweimal überlegen, ob ich mein Kind einem solch kalten System anvertraue, das den Beleg für seine politischen Verheißungen bislang schuldig geblieben ist.