Körperbehinderte Schülerin an einem Gymnasium Foto: dpa

Eltern von Kindern mit Behinderungen können ab 2015/16 selbst entscheiden, ob sie ihr Kind in eine Sonderschule oder eine allgemeine Schule schicken. Offen ist noch die Finanzierung.

Stuttgart - Vor über 40 Jahren wurde die Sonderschulpflicht eingeführt. Damit wurde vielen Kindern mit geistigen und körperlichen Einschränkungen ein Schulbesuch erst ermöglicht – bis dahin galten viele von ihnen als bildungsunfähig. Im nächsten Jahr will die Landesregierung die Sonderschulpflicht streichen. „Wir wollen an unseren Schulen eine Kultur des Miteinanders, nicht der Ausgrenzung“, sagte Kultusminister Andreas Stoch (SPD) am Dienstag in Stuttgart. Zuvor hatte das Kabinett die Eckpunkte für das Inklusionsgesetz gebilligt.

Ein absolutes Elternwahlrecht wird es aber nicht geben. Die Schulverwaltung kann den Wunsch von Eltern ablehnen, „wenn die personellen und sachlichen Voraussetzungen für ein qualitätsvolles inklusives Angebot am gewünschten Standort nicht geschaffen werden können“, sagte Stoch. Dann muss sie gemeinsam mit den Eltern „Alternativen entwickeln“.

Die Aufgabe der Inklusion betrifft alle Schularten und Schulen. Das Argument, dass ein Kind den eigentlichen Schulabschluss einer Schule nicht schaffen kann, wird nicht gelten. „Damit würden Kinder mit geistiger Behinderung von der Inklusion ausgeschlossen.“ Vor wenigen Monaten hatten Lehrer und Eltern einen Jungen mit Down-Syndrom unter anderem mit dieser Begründung abgelehnt. Um die Lehrer an allgemeinen Schulen auf die neue Aufgabe vorzubereiten, soll es mehr Fortbildungen zu inklusivem Unterricht geben. Auch bei der Lehrerausbildung spielt das Thema künftig eine wichtige Rolle.

In der Regel sollen mehrere Kinder mit Handicaps gemeinsam mit nichtbehinderten Mitschülern lernen und von zwei Lehrern unterrichtet werden. Wie viele Stunden Sonderpädagogen eingesetzt werden, hängt von der Zahl der behinderten Kinder und ihren Einschränkungen ab. Sonderpädagogen, die überwiegend an Regelschulen tätig sind, sollen künftig zum dortigen Kollegium zählen. Die Sonderschulen bleiben erhalten. Sie sollen neben dem Unterricht für behinderte Schüler Beratung und Unterstützung für die allgemeinen Schulen anbieten.

Der Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung appelliert an die Landesregierung, „die hohe Professionalität und Qualität der Sonderpädagogik nicht durch Schnellschüsse zu gefährden“. Dazu seine mehr als die angekündigten zusätzlichen 200 Sonderpädagogen notwendig, sagte der Landesvorsitzende Hans Ulrich Karg. Die Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben – gemeinsam lernen, Claudia Heizmann forderte, das Gesetz bald zu verabschieden. Das lange Zögern der Landesregierung habe dazu geführt, das weitere Lehrerkollegien Beschlüsse gegen Inklusion gefasst hätten und „Elternschaften meinen, sie könnten mitbestimmen, ob und welche ,Behinderte’ in die Klasse ihrer Kinder kommen“. Grüne und SPD müssten nun dauerhaft die notwendigen neuen Stellen für den gemeinsamen Unterricht finanzieren, sagte Doro Moritz, Landeschefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. „Nur so kann Akzeptanz für inklusive Bildungsangebote bei allen Beteiligten geschaffen werden.“

Die Landesregierung habe wichtige Weichen für die Inklusion gestellt, sagte Städtetagsdezernent Norbert Brugger. „Dieser grobe Rahmen muss nun rasch verfeinert werden, indem ein erster Gesetzentwurf vorgelegt wird.“ Zuallererst müsse die Finanzierung und Aufgabenteilung geklärt werden. „Nur wenn das Land seine Pflicht, Zusatzaufwände der Kommunen infolge der Inklusion zu finanzieren, grundsätzlich anerkennt, können wir mit ihm verhandeln.“

Aus Sicht der CDU-Bildungsexpertin Monika Stolz ist die geplante Verortung der Sonderpädagogen an den Regelschulen ein Problem. Stoch riskiere, dass sie den fachlichen Austausch und damit „ ihre Professionalität nach und nach verlieren.“ Ihr FDP-Kollege Timm Kern warnte, „durch das reichlich unausgegorene Konzept“ der Landesregierung bestehe die Gefahr, „dass die Sonderschulen ausbluten“.