Jeder siebte Student hat sich schon einmal gedopt. Foto: dpa

Leistungsdruck und Prüfungsstress: Immer mehr Studenten dopen sich, um besser lernen zu können.

Vaihingen - Als Marina Schiller das erste Mal ernsthaft darüber nachdenkt, ist sie gerade mitten in der Prüfungsphase. Marina heißt eigentlich anders, aber sie will anonym bleiben. Die Studentin der Hochschule der Medien ist damals im zweiten Semester Mobile Medien eingeschrieben. Sie sitzt im Wohnheim auf dem Campus Vaihingen am Schreibtisch, um sie herum stapelt sich der Lernstoff zu Betriebswirtschaftslehre. Ein schwieriges Fach, und die Zeit rennt ihr davon. Neben der 24-Jährigen liegt eine kleine Arzneipackung, darin elf Filmtabletten, kleine Hartkapseln. Die eine Hälfte ist durchsichtig, die andere lila. Es ist Ritalin. „Ich habe noch überlegt – dann dachte ich mir: Okay, nimmst du mal eine. Wenn es Kinder nehmen können, dann kann das nicht so schlimm sein. Dann kann ich ja mal testen was dahinter steckt“, erinnert sich Marina. Sie greift zu und schluckt.

Jeder siebte Student dopt

Und zwar deshalb, weil Ritalin den Kopf zu Höchstleistungen antreibt. Wie Marina greifen immer mehr Studenten zu leistungssteigernden Substanzen. Laut einer Studie des deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) aus dem Jahr 2015 hat sich jeder siebte Student schon einmal gepusht (14 Prozent), um den Anforderungen des Studiums nachkommen zu können. Fast ein Drittel der Studenten kennt jemanden im näheren Bekanntenkreis. Eine Studie der Mainzer Universität aus dem Jahr 2013 zeigt andere Zahlen: Hier gab jeder fünfte Student an, schon einmal gedopt zu haben.

Dabei ist nicht jeder Konsum auch ein Medikamentenmissbrauch: Manche Studenten werfen frei verkäufliche Substanzen wie Koffeintabletten ein, andere greifen zu verschreibungspflichtigen Medikamenten. Die Wunderpille macht mit Marina vor allem eines: Sie hilft ihr, hoch konzentriert und fokussiert zu sein.

Ritalin als Studienbegleiter

„Als der Wirkstoff im Organismus war, habe ich im Bauch ein Glücksgefühl gespürt. Es hat mir Freude gemacht, meine Bücher anzuschauen“, sagt Marina. Das Lernen der Wirtschaftsformeln, vorher eine unbeliebte Thematik, schafft die Studentin jetzt mit Leichtigkeit: „Ich konnte mich die ganze Zeit konzentrieren.“ Marinas Freund ruft an, will wissen, warum sie sich nicht meldet. Die junge Frau ärgert sich. „Ich hatte die ganze Zeit durchgelernt und mich deshalb nicht bei ihm gemeldet – der Anruf hat mich in diesem Moment total genervt“, sagt sie. Die Zeit, so scheint es ihr, vergeht wie im Flug. Mittlerweile ist das fast zwei Jahre her.

Ritalin ist inzwischen zu ihrem regelmäßigen Studienbegleiter geworden. Das Medikament wird unter Hirndopern wohl am häufigsten geschluckt. Ärzte verschreiben das Arzneimittel eigentlich an ADHS-Patienten – also Patienten mit Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitäts-Syndrom. Die meisten von ihnen sind Kinder. Ihnen mangelt es an einem Botenstoff, der im Gehirn für die Informationsübertragung zwischen Nervenzellen zuständig ist. Der Wirkstoff des Ritalins wirkt wie ein Ersatz: Die Kinder können sich nach der Einnahme besser konzentrieren.

„Am nächsten Tag musst du das dann wieder nehmen.“

Leistungsdruck, Stress, persönliche Probleme oder eine Doppelbelastung von Studium und Nebenjob: Studenten dopen aus unterschiedlichen Gründen. Der Effekt ist aber immer derselbe: Sie können sich länger konzentrieren, 15 Stunden am Stück sind keine Seltenheit. „Ich habe dadurch mehr Zeit und kann mehr Stoff lernen“, sagt Marina.

Doch Ritalin hat auch seine Schattenseiten: Die Welt um sich herum vergisst Marina völlig. Alles wird nebensächlich, die Umgebung zu einem Tunnel. Sie vergisst zu trinken, zu essen, bekommt Magenprobleme und Kopfschmerzen. Nachts kann sie nicht schlafen – eine Nebenwirkung, die sehr häufig bei Ritalinkonsumenten auftritt. „Irgendwann versuchst du, die Augen zu schließen und die Nacht hinter dich zu bringen. Am nächsten Tag musst du das dann wieder nehmen, um fit zu werden“, beschreibt Marina den Kreis.

Jeden Tag schluckt sie zum Lernen eine Pille, ab dem dritten Tag fühlt sie sich depressiv: „Da hatte mein Körper wohl schon alle Hormone ausgeschüttet. Wenn ich beim Lernen einen Fehler gemacht habe, habe ich mich plötzlich extrem über mich selbst aufgeregt.“ Irgendwann hält Ritalin Marina nur noch wach, sie ist gereizt. Ritalin hilft ihr beim Lernen jetzt nicht mehr. Sie legt Pausen ein. Trotzdem bewertet die Studentin die Einnahme positiv: „Wenn ich wissen würde, mir ginge es nach der Einnahme immer schlecht, dann würde ich es nicht nehmen. Mit solchen Nebenwirkungen komme ich aber klar.“

50 Euro für elf Tabletten

Hauptinhaltsstoff des Medikamentes ist der amphetaminartige Wirkstoff Methylphenidat. Der Wirkstoff wird als Betäubungsmittel eingestuft. Ritalin ist damit verschreibungspflichtig. Eigentlich. Denn Marina bekommt das Medikament über den Freund eines Freundes. Er ist ADHS-Patient, lässt sich die Tabletten verschreiben. Anstatt sie selbst zu nehmen, verkauft er sie weiter. 50 Euro hat die junge Frau für elf Tabletten gezahlt. Das ist ein Freundschaftspreis, aber gerade ist die Prüfungsphase zu Ende. Angebot und Nachfrage regeln auch auf dem Schwarzmarkt den Preis.

Den eigentlichen Verkäufer kennt Marina nicht. „Das brauche ich auch nicht, denn das ist nur ein Handel, wie ein Geschäft“, sagt sie. Ein Geschäft, das illegal ist: Wer mit Betäubungsmitteln handelt, kann mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe rechnen. Auch der Erwerb ist nicht legal. In der Kriminalstatistik 2015 für Stuttgart taucht Ritalin allerdings nicht gesondert auf: Zu unbedeutend ist der Handel mit der Wunderpille.

„Wir haben nicht die Möglichkeit, vor Prüfungen Tests zu machen.“

Der Konsum selbst ist nicht strafbar. Ohnehin lässt sich in der Realität nicht so einfach kontrollieren, ob ein gedopter Student im Vorlesungssaal sitzt. „Es wäre vermessen zu behaupten, dass die HdM von diesem Problem nicht betroffen ist“, schreibt Mathias Hinkelmann, der Prorektor der Hochschule der Medien, in einer Stellungnahme. „Bei uns studieren 4700 junge Menschen, die sich in genau der gleichen Situation befinden wie die Studierenden an anderen Hochschulen und sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch so verhalten, wie ihre Altersgenossen an anderen Hochschulen. Gehirndoping ist aber kein Thema, dass die Hochschule intensiv beschäftigt.“

Weiter heißt es, der Konsum der Medikamente könne von der Hochschule nicht geprüft werden. Hans-Herwig Geyer, Pressesprecher der Universität Stuttgart, sieht das ähnlich: „Wir haben nicht die Möglichkeit, vor Prüfungen Tests zu machen.“ Dabei ist Hirndoping unter Studenten schon lange kein Tabuthema mehr. Morgens in der Prüfungsphase soll man in der Universitätsbibliothek sehen, wie die Hirndoper ihre tägliche Dosis einwerfen, verrät ein Student auf dem Campus. Es ist ein Gerücht, denn belegte Zahlen gibt es nicht - wie bei vielen illegalen Tätigkeiten.

Hirndoping auch am Arbeitsplatz

Nicht nur unter Studenten wird gedopt – leistungssteigernde Medikamente finden auch am Arbeitsplatz immer mehr Anklang. Laut einer Studie der DAK 2015 haben drei Millionen Beschäftigte schon einmal leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente genommen. Als Grund nannten Betroffene hohen Leistungsdruck, Stress und Überbelastung. Am häufigsten werden Medikamente gegen Angst, Nervosität und Unruhe (60,6 Prozent) und Medikamente gegen Depressionen (34 Prozent) konsumiert. Männer dopen, um berufliche Ziele besser zu erreichen, Frauen eher um emotional stabil zu sein. Das Klischee des dopenden Top-Managers hingegen bestätigt sich nicht: Beschäftigte mit einer einfachen Tätigkeit greifen häufiger zu Pillen als gelernte oder hoch qualifizierte Kräfte. Marina spricht offen über Hirndoping, sogar direkt auf dem Campus. „Es ist lustig: Davor dachte ich, Leute mit Drogen müssen böse sein. Das sind so dunkle Gestalten, wie man sie vom Bahnhof kennt“, sagt Marina. Am Anfang erzählte sie niemandem direkt von ihrem Ritalinkonsum. Sie sagte nur „ich kenne da jemanden“, wartete die Reaktionen der Kommilitonen ab. Die anderen bestätigten: Ja, das haben wir auch schon gemacht. „Für die Studenten ist das kein Tabuthema“, sagt Marina.

Kein Tabuthema mehr

Wie oft sie inzwischen gedopt hat, kann sie nicht mehr sagen – kürzlich für eine Prüfung, im fünften Semester, im zweiten Semester. „Schon häufiger“, sagt sie. Mit Ritalin fühlt sie sich beim Lernen sicher. Ärzte sprechen von einer psychischen Abhängigkeit: Weil es mit dem Medikament so gut klappt, wird es immer wieder eingenommen. Ritalin verschafft der Studentin einen neuen Zeitrahmen. „Mit Ritalin konnte ich Vollgas geben“, sagt Marina. Ob sie die Prüfungen denn nicht auch ohne bestanden hätte? Marina zögert: „Ja, vielleicht – aber ich habe ja keinen Vergleich!“