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Veranstalter zählen am Montag 6000, Polizei 3500 Demonstranten - Özdemir fordert Volksentscheid.

Stuttgart - Die Welle des Protests gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 ebbt nicht ab. Am Montagabend haben tausende Menschen am Hauptbahnhof gegen den geplanten Abriss von dessen Nordflügel demonstriert. Am Morgen hatten sich mehrere hundert Demonstranten an einer Sitzblockade vor dem Bauzaun beteiligt.

Den vierten Tag in Folge dauerten am Montag die Demonstrationen gegen den 4,1 Milliarden Euro teuren Tiefbahnhof an. Zu der bislang größten Protestkundgebung, seit die Bahn in einer heftig kritisierten Aktion in der Nacht zum Samstag den Nordflügel des Kopfbahnhofs einzäunen ließ, strömten Montagabend trotz Regens laut Veranstalter über 6000 Menschen hinter den Hauptbahnhof. Die Polizei schätzte die Teilnehmerzahl bei der 37. Auflage der wöchentlichen Kundgebungen auf 3500. Ein Großteil der Menschen zog anschließend in einem Demonstrationszug über die Heilbronner Straße zur Bahn-Repräsentanz in der Räpplenstraße. Bereits am frühen Morgen hatten sich rund 300 Menschen an einer einstündigen Sitzblockade vor dem Bauzaun beteiligt. Die erwarteten Baufahrzeuge fuhren aber nicht vor. Alle Veranstaltungen verliefen laut Polizei bis Verkehrsbehinderungen friedlich.

"Wenn die Befürworter sich so sicher mit ihren Argumenten sind, dann lasst das Volk einfach über den Tiefbahnhof abstimmen", forderte der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, am Abend einen Bürgerentscheid über das Milliardenprojekt. Im Jahr 2007 war ein derartiges Ansinnen des Aktionskreises, der sich für Erhalt und Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofs einsetzt, vor Gericht gescheitert. Özdemir, kurzfristig aus Berlin gekommen, kritisierte, dass Politiker wie der FDP-Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, Hans-Ulrich Rühlke, die Protestbewegung mit Chaoten gleichzusetzen versuche.

"Ein Projekt, das eine Gesellschaft so tief spaltet, sollte angehalten werden", appellierte Andreas Keller, Mitbegründer der Internationalen Bach-Akademie, direkt an Stuttgarts Oberbürgemeister Wolfgang Schuster (CDU), sich einem Moratorium nicht länger zu verschließen. Nach dem Vorbild der Bundeswehr sprach Keller mit den Demonstranten ein Gelöbnis, sich für den Kopfbahnhof einzusetzen.

Aus Sicht des Aktionsbündnisses ist die Neuordnung des Stuttgarter Bahnknotens zwischen Feuerbach und Wendlingen inzwischen nicht mehr demokratisch legitimiert. "Wenn Parlamenten und Gerichten alle Kosten- und Kapazitätsberechnungen vorgelegen hätten, wären Entscheidungen anders ausgefallen", spielte BUND-Regionalvorsitzender Axel Wieland auf eine öffentlich gemachte Studie des Züricher SMA-Büros aus dem Jahr 2008 an. Sie hatte Tiefbahnhof und Tunnelstrecken Kapazitätsengpässe bescheinigt. Die Leistungsfähigkeit des Projekts beschäftigt inzwischen auch die Brüsseler EU-Kommission, nachdem die Linke-Europaabgeordnete Sabine Wils aufgrund der SMA-Studie am Freitag eine Anfrage über die weitere Förderwürdigkeit von Stuttgart 21 gestellt hat. Die Europäische Union bezuschusst die Trasse bis Wendlingen mit 114,5 Millionen Euro und die anschließende Neubaustrecke nach Ulm mit 101,5 Millionen Euro. Kritiker von Stuttgart 21 haben auch dazu aufgerufen, gegen die Verantwortlichen Strafanzeige wegen Untreue und Betruges zu erstatten. Stefan Biehl, Sprecher der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, bestätigte den Eingang von einer Anzeige, in der unter anderen dem Ex-Ministerpräsidenten Günther Oettinger und Bahn-Chef Rüdiger Grube vorgeworfen wird, Steuergelder durch den Baubeschluss für ein verkehrlich kaum Nutzen bringendes Projekt veruntreut zu haben. "Vom Ergebnis einer Vorprüfung der Beschuldigungen hängt ab, ob ein förmliches Ermittlungsverfahren aufgenommen wird", so Biehl. Inzwischen hat das Kommunikationsbüro von Projektsprecher und Vizelandtagspräsident Wolfgang Drexler (SPD) auf die anhaltenden Proteste reagiert. Die Internet-Webcam auf der Stuttgart-21-Homepage mit Blick auf den Nordflügel wurde geschwenkt, um Bauzaun und Demonstrationen auszublenden.