Nur für Schwindelfreie: Der Tiefblick in den hundert Meter hohen Gaskessel. In unserer Bildergalerie bekommen Sie noch mehr Tief- und Einblicke in den Kessel. Foto: Piechowski

Der Gang ins Innere des Gaisburger Gaskessels ist nichts für Menschen mit Höhenangst.

Stuttgart - Der Aufzug ruckelt bedenklich, während Norbert Ivenz mit einem lauten Ruck die graue Stahltür schließt. Ein kalter Wind pfeift durch die Türritze, während sich die Kabine gemächlich zuckelnd in Richtung Himmel in Bewegung setzt. "So schnell wie der Fernsehturm-Aufzug sind wir nicht gerade, aber wir kommen schon irgendwann an", verspricht Ivenz, Projektmanager bei der Energie Baden-Württemberg (EnBW). Immerhin: Wenn sich fünf Personen in die im Jahr 1949 erbaute Kabine quetschen, kann es schon mal bis zu sechs Minuten dauern, ehe das Ziel - das Dach des Gaskessels - erreicht ist.

Doch irgendwann hält das wackelige Gefährt quietschend, die Tür öffnet sich, und dem Besucher offenbart sich ein spektakulärer Blick über die Landeshauptstadt; an diesem ungemütlichen Dezembertag leider regenverhangen. Auf der einen Seite der mit dem Weltweihnachtscircus belegte Wasen, daneben das Fußballstadion, zur anderen die abgezirkelten Straßenzüge der östlichen Stadtteile Gaisburg, Berg und Raitelsberg; natürlich auch die Uhlandshöhe, die Gablenberger Weinberge, der Klingenbachpark.

Ein Gefühl fast wie in den Alpen

Der Wind rüttelt an der Jacke, pfeift um die Ohren und trägt dabei das Hupen der Autos von weit unten herauf, die Luft ist klar. Ein Gefühl fast wie in den Alpen. Doch der erste Schritt auf dem Dach des Kessels, einem der ältesten und größten in Europa, der noch in Betrieb ist, lenkt rasch wieder von der fantastischen Aussicht ab. Denn der Boden, das ist nicht etwa eine meterdicke Stahl- oder Betonschicht, nein: Das ist eine nur wenige Zentimeter dünne, vibrierende und mit einem blechernen "Oink" nachgebende Stahlplatte, die sich beim Betreten anhört wie ein dünnes Blech, das man gerne beim Werkeln im heimischen Bastelkeller verwendet. Doch Norbert Ivenz wischt alle Bedenken beiseite. "Da passiert nichts, hier oben ist alles sicher."

Gleiches gelte für das Innere des gigantischen Gaskessels, verspricht er. Fachgruppenleiter Bernd Holzhay öffnet die Tür, und nach dem ersten Blick ins Innere des stählernen Ungetüms wird flugs klar: Der Besuch dieser überdimensionalen Konservendose ist weiß Gott nichts für höhenängstliche Menschen mit schwachen Nerven. Der vorsichtige Blick fällt ins gigantische Innere des 100 Meter hohen Kessels, der einen Durchmesser von 67 Meter aufweist und damit so breit ist wie ein Fußballfeld.

1000 Tonnen schwere Stahlscheibe

Irgendwo ganz weit hinten, auf einer anderen Seite des Runds, sind die skelettartigen Stahlkreise zu erkennen, die das Ganze seit vielen Jahrzehnten zusammenhalten. Ein diffuses Licht flirrt durch den Kessel, es ist kalt, und über allem liegt ein penetranter Geruch nach Teeröl. Das ist zwar unangenehm, muss aber offensichtlich so sein, denn die bewegliche, 3500 Quadratmeter große Scheibe ganz weit unten wird am Kesselrand mit zähflüssigem Öl abgedichtet.

"Die Scheibe, auf die man von hier oben blickt, ist sozusagen die Trennwand zwischen Gas und frischer Luft", erklärt Ivenz. Die 1000 Tonnen schwere Stahlscheibe - nach der der Kessel seinen Beinamen Scheibenbehälter trägt - schwimmt auf dem darunter gelagerten Gas. Je nach Gasmenge liegt sie weiter oben oder unten; stabilisiert wird sie dabei von Rollen. Ist der Gaskessel mit der vollen Gasmenge gefüllt, schwebt die Scheibe auf einer Höhe von 90 Metern.

Schwindelfreie Arbeiter

An jenem Tag befindet sich allerdings sehr wenig Gas im Behälter, beim zaghaften Blick nach ganz weit unten stellt sich ein mulmiges Gefühl ein. "Unsere Arbeiter müssen natürlich schwindelfrei sein, und Angst dürfen sie auch keine haben", sagt Holzhay mit ausdrucksloser Miene. Behände läuft er die schmale Stahltreppe auf und ab und blickt prüfend umher; ihm machen solcherlei Ausflüge schon lange nichts mehr aus. Regelmäßig werden die Rollen kontrolliert, auch andere Instandhaltungsarbeiten stehen häufig an. Zudem wird täglich geprüft, ob die Scheibe und die Teeröldichtung auch wirklich kein Gas austreten lassen.

Ivenz und Holzhay blicken ermutigend von der weiter unten gelegenen Treppenstufe nach oben. "Kommen Sie ruhig weiter, es passiert nichts." Nein danke, der Blick von der sicheren Tür aus in den Bauch des Ungetüms reicht vollkommen für den Moment. Beide grinsen und feixen; weniger forsch sind sie dagegen bei der Frage nach der Fotografier-Erlaubnis. "Ich gehe einfach davon aus, dass irgendwo immer ein ganz, ganz kleines bisschen Gas austritt - was zwar von der Menge her für uns Menschen unbedenklich ist, aber wenn man doch etwas tiefer in den Kessel hinabsteigt und dann auf den Auslöser der Kamera drückt, möchte ich einfach nicht erleben, dass sich irgendwo ein Funke entzünden kann", erklärt Ivenz.

Das wird freilich so schnell nicht passieren, denn bei einer Überprüfung aller 100.000 Nieten im Jahr 2002 wurden bei gerade einmal 38 Nieten kleinere Schäden festgestellt - und umgehend behoben.