Sonntag, 17. September, 15 Uhr in Heidenheim: Ein Motorradfahrer kracht gegen eine Laterne und wird tödlich verletzt. Ein Fahrradfahrer hält an, filmt das Unfallopfer und fährt seelenruhig weiter – ohne die Polizei zu rufen. Foto: dpa

Nach dem Fall eines Gaffers in Heidenheim fordert die Deutsche Polizeigewerkschaft ein härteres juristisches Durchgreifen. Sollte der Mann gefasst werden, droht ihm ein Prozess wegen unterlassener Hilfeleistung.

Stuttgart/Heidenheim - Der Gaffer, der am Sonntag einen sterbenden Motorradfahrer mit dem Handy gefilmt hat, soll mit Hilfe von Videoaufnahmen eines Autofahrers identifiziert werden. „Wir haben diesen Film ausgewertet und müssen dazu nun Unfallzeugen und Ersthelfer befragen, ob sie den Mann erkennen“, sagt ein Sprecher des Polizeipräsidiums Ulm.

Schwerverletzten gefilmt statt zu helfen

Der Gaffer, eine etwa 20 bis 25 Jahre alter Radfahrer, hatte am Sonntagnachmittag (17. September) mitten in Heidenheim den Motorradfahrer gefilmt statt ihm die Polizei zu rufen. Der 29 Jahre alte Motorradfahrer war gegen eine Straßenlaterne gekracht und hatte sich tödlich verletzt.

Die ausgewerteten Aufnahmen, die unter anderem den Gaffer zeigen, stammen von der Dashcam eines Autofahrers. Dashcams sind kleine Videokameras, die zumeist an der Windschutzscheibe oder auf dem Armaturenbrett von Autos angebracht werden. Dem Gesuchten droht eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung. Er könnte laut Polizei außerdem wegen der Behinderung von Rettungskräften belangt werden.

Immer mehr Gaffer-Vorfälle

Immer wieder schlagen Gaffer zu. Zuletzt hatte in Frankfurt am Main eine Gruppe von bis zu 60 Personen an der Konstablerwache in der Innenstadt Rettungskräfte daran gehindert, einen bewusstlosen 19-Jährigen zu reanimieren. Ein Mann aus der Menge rief die anderen immer wieder lautstark dazu auf, die Sanitäter, den Notarzt und die Polizei vom Rettungsversuch abzuhalten.

In jüngster Zeit beobachte die Polizei eine Zunahme solcher Vorfälle, erklärt der Polizeisprecher in Ulm. Oftmals zeigten Gaffer kein Unrechtsbewusstsein und äußerten, sie würden doch „nur“ filmen. Auch in vielen anderen Bundesländern berichten Einsätzkräfte immer wieder, dass Gaffer Rettungsarbeiten störten.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft fordert ein härteres juristisches Durchgreifen gegen Gaffer. „Die Justiz muss den gesetzlichen Spielraum endlich auch nutzen und Urteile fällen, die die Täter spüren und mögliche Nachahmer abhalten“, betont der Vorsitzende Rainer Wendt. „Sie darf nicht immer nur am unteren Ende des Strafrahmens agieren, sondern muss den Willen des Gesetzgebers konsequent umsetzen.“

Woher kommt das Wort gaffen?

Warum tun Menschen so etwas? was macht einen unbeteiligten Passanten zu einem Gaffer? Was meint das Wort gaffen überhaupt?

Schaulust ist ein Phänomen, das sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen findet. Im alten Rom vergnügten sich die Bürger bei Gladiatorenkämpfen, Hexenverbrennungen waren im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ein willkommener Anlass, sich am Elend anderer zu weiden. Der Pranger war bis in das 19. Jahrhundert hinein eine Unterhaltungsattraktion für das gemeine Volk.

Gaffen stammt vom althochdeutschen „kapfen“ und mittelhochdeutschen „kapfen“ – „den Mund aufsperren“ und dem altenglischen „ofergapian“ – vernachlässigen, vergessen. Von daher stammt auch der Begriff „Kampfer“. Noch älter ist die indogermanische Wortwurzel „ghe- „gähnen, nach Luft schnappen“. Von daher kommt auch japsen „nach Lust schnappen“.

Die Lust am Schauen

„90 Prozent der Leute sind sensationsgierig“, sagt der Soziologe Wolf Dombrowsky, Professor für Katastrophenmanagement an der Steinbeis Hochschule in Berlin. „Die restlichen zehn Prozent sind betroffen.“ Etwas Schlimmes aus sicherer Distanz zu beobachten diene als eine Art Erlebnisvorlage, mit der sich der Mensch ins Verhältnis setzen könne, so Dombrowsky. „Er denkt daran, dass er fast das Opfer gewesen wäre, und fantasiert darüber, was wäre, wenn ihm das passiert wäre.“

Dem Gaffer geht es um den Nervenkitzel und die Lust am Schauen. Das Gaffen ist eine Abart des Voyeurismus, wobei es nicht um sexuelle Stimulation geht, sondern um spektakuläre Ereignisse wie Massenkarambolagen auf der Autobahn. Der Gaffer – der Begriff hat generell eine negative Akzentuierung – ist der eher zufällige, auf jeden Fall aber unwillkommene Zuschauer.

Ist das Gaffen geplant und organisiert, spricht man Katastrophen-Tourismus. Hier kann das Objekt der Begierde eine Naturkatastrophe, ein Gewaltverbrechen oder sonst eine Monstrosität sein.

Schärfere Strafen gegen Gaffer

Mitte Mai beschloss der Bundesrat ein neues Gesetz, das sich neben Angriffen auf Rettungskräfte auch um Gaffer dreht. Durch die neue Strafvorschrift „Behinderung von hilfeleistenden Personen“ wird das Gaffen an Unfallstellen oder das Blockieren einer Rettungsgasse unter Strafe gestellt. Künftig drohen Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr oder Geldstrafen. Wie hoch die Strafen ausfallen, hängt vom Einzelfall ab – beispielsweise davon, ob ein Verletzter durch Schaulustige ums Leben kam oder ob ein Gaffer schon einmal aufgefallen ist.

„Gaffen“ ist juristisch gesehen eine Ordnungswidrigkeit, für die ein Bußgeld bis zu 1000 Euro droht. Wenn man Rettungskräfte aktiv behindert, begeht man eine Straftat. Feuerwehrleute, Polizisten und Mitarbeiter des medizinischen Rettungsdienstes stehen unter besonderem gesetzlichem Schutz. Man behindert sie bereits beim Ausüben ihrer Tätigkeit, wenn man bei einem Unfall nicht zur Seite fährt, um eine Rettungsgasse zu bilden.

Seitens der Einsatzkräfte der Polizei oder Feuerwehr darf auch „unmittelbarer Zwang durch körperliche Gewalt und deren Hilfsmittel . . . angewendet werden“, heißt es in Paragraf 25 des Bayerischen Feuerwehrgesetzes.

Aber auch passives Verhalten bei einem Unfall kann strafbar sein. Bei unterlassener Hilfeleistung drohen Geldstrafen und Haftstrafen von bis zu zwei Jahren oder eine Geldstrafe. Schaulustige, die hilflose Personen filmen oder fotografieren, drohen Platzverweise, Beschlagnahme von Handys und Kameras, das Löschen von Foto- und Videomaterial sowie Bußgelder und Haftstrafen von bis zu zwei Jahren.

Wer aktiv Rettungskräfte behindert kann sogar für bis zu fünf Jahren ins Gefängnis wandern. Die Bemessung der Strafe ist im Einzelfall jeweils abhängig von der Schwere der Tat.