SPD-Chef Gabriel. Foto: dapd

SPD-Chef Gabriel forderte Merkel auf, noch in diesem Jahr eine Bundes-Netz-AG zu gründen.

Berlin – Die Energiewende wird durch den Ausbau der Stromnetze in den kommenden zehn Jahren mehr als 30 Milliarden Euro kosten. Allein die Modernisierung und der Ausbau der Trassen an Land verschlängen bis 2022 rund 20 Milliarden Euro, erklärten die Betreiber der Übertragungsnetze am Dienstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Bonn. Merkel besänftigt die Bundesnetzagentur: Trotz aller technischen und politischer Probleme bleibt es beim Atomausstieg. SPD-Chef Gabriel hält das für fatal.

Herr Gabriel, die Bundesnetzagentur dringt auf neue Stromtrassen, sonst sei die Energiewende kaum zu schaffen. Kanzlerin Angela Merkel hält die Sorge für übertrieben: Es liefe alles nach Plan. Wird wirklich alles gut oder muss man mit verborgenen Untiefen rechnen?
Die Energiewende ist eine Frage von nationaler Bedeutung. Ob sie gelingt oder nicht, wird die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland stärker prägen als jedes andere innenpolitische Thema. Die Energieversorgung ist das Herz-Kreis-Lauf-System der deutschen Volkswirtschaft, dem Netzausbau kommt eine überragende Bedeutung zu. Bundeskanzlerin Merkel muss noch in diesem Jahr eine Bundes-Netz-AG gründen, an der sich die Netzbetreiber, aber auch Stadtwerke und andere Unternehmen beteiligen können. Der Bund muss mindestens 25,1 Prozent an der Bundes-Netz AG halten. Die Erfahrungen der letzten 12 Monate zeigen: Ohne strukturelle Veränderungen kommt der Netzausbau nicht voran. Die SPD hat bereits in der Großen Koalition eine Bundes-Netz AG gefordert, und auch aus der Industrie gab es damals Unterstützung für das Konzept.

Merkel dagegen betont, der Zeitplan ist einzuhalten . . .
… wenn sie denn endlich aktiv würde! Um die Energiewende voranzutreiben, brauchen wir eine Steuerungsgruppe Energiewende. Und an deren Spitze muss sie selbst oder ihr Kanzleramtschef stehen. In dieser Steuerungsgruppe sollten nicht nur Wirtschaft, Umweltverbände, Länder und Kommunen vertreten sein, sondern auch die Experten anderer Parteien. Viele in den Parteien von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben einen hohen Sachverstand bei der Lösung der vor uns stehenden Aufgaben: bei der Transformation des Strommarktes in das Zeitalter der erneuerbaren Energien, bei der Schaffung von Kapazitätsmärkten und beim Netzausbau. Angela Merkel hat jetzt die Wahl: einen wirklichen Neustart zur Energiewende, bei dem die besten Köpfe zur Mitarbeit eingeladen werden, oder wieder nur ein medial inszenierten „Neustart“ mit Showterminen.

Was soll diese Steuerungsgruppe genau können?
Diese Gruppe muss die Transformation des Strommarkts steuern und begleiten, Zeitpläne kontrollieren und koordinieren, was wann zu tun ist. Merkel muss zurück zu den Empfehlungen der Ethikkommission und alle, die guten Willens sind, einladen mitzuhelfen. Auch SPD und Grünen. Denn alleine wird die Bundesregierung ihre Selbstblockade nicht aufheben können.

Was kann und wird die SPD der Bundesregierung an politischen Zusagen erfüllen, damit der Umstieg in erneuerbare Energien gelingt?
Die Bundesregierung hat viel Zeit nutzlos verstreichen lassen. Vor einem Jahr hat die Bundesregierung ihre energiepolitische Kehrtwende vollzogen. Seitdem ist – bis auf den Rausschmiss von Umweltminister Röttgen – nichts passiert. Die Energiewende und mit ihr der Atomausstieg drohen zu scheitern. Aber so verlockend die berechtigte Kritik am Totalversagen der Regierung von Angela Merkel in diesem Fall auch sein mag: sie allein hilft nicht. Im Gegenteil: auch die Oppositionsparteien haben ein Interesse daran, dass die gemeinsam beschlossene Energiewende zu einem Erfolg für unser Land wird. Wir sind bereit, unsere Verärgerung über ein verschenktes Jahr zurückzustellen, denn die Gefahr ist riesig groß, den Umstieg zu verpassen. Wenn Merkel einlädt, sind wir bereit, diese Herausforderung gemeinsam zu stemmen.

Wie ist zu verhindern, dass knapper Strom immer teurer wird?
Zunächst muss man dafür sorgen, dass Strom nicht knapp ist – deshalb brauchen wir neue, umweltfreundliche Gaskraftwerke. Es gibt immer noch kein Konzept für den Ausbau der Erneuerbaren, und bei der Energieeinsparung tut sich nichts. Stattdessen ist unser Stromnetz so instabil wie nie. Eine Solarfirma nach der anderen geht pleite. Die steigenden Strompreise werden zu einem massiven sozialen Problem. All das ist kein Zufall. Sondern logische Folge der seit einem Jahr andauernden Selbstblockade der Bundesregierung.

Eine sehr grundsätzliche Frage zum Thema Strompreis: Muss während des Umbaus des Energiemarktes die Stromversorgung nicht zumindest vorübergehend kommunal wieder verstaatlicht werden?
In einzelnen Bereichen muss auch der Staat wieder stärker eingreifen – etwa bei den Netzen. Und ohne Stadtwerke im kommunalen Eigentum und Genossenschaften werden wir die die Energiewende nicht hinbekommen. Ich will die großen Stromkonzerne nicht außen vor lassen – aber deren Interessenlage ist eine andere. Aufgabe der Bundesregierung ist es, alle zusammenzubringen, um einen neuen Energiemarkt zu konzipieren. Bislang tun wir so, als seinen die Erneuerbaren immer noch eine Nische. Aber sie sollen in naher Zukunft die Hauptlast der Stromerzeugung tragen. Darauf sind unsere Förderinstrumente bislang überhaupt nicht ausgerichtet.

Ob Deutschland das national hinbekommt, hängt entscheidend von der deutschen Industrie ab. Wie ist die ins Boot zu holen?
Wenn wir eine saubere und bezahlbare Energieversorgung hinbekommen, haben wir einen echten Exportschlager. Denn die ganze Welt sucht Antworten auf die Frage, wie wir moderne Gesellschaften umweltschonend mit Energie versorgen. Die Energiewende ist eine riesige Chance für unsere Wirtschaft – wenn man sie endlich beherzt nutzt. Die deutsche Industrie ist da schon viel weiter als die Bundesregierung.