Carla Votteler (li.) und Helena Glänzel besuchen beide die Klassenstufe 7 im Degerlocher Wilhelms-Gymnasium – mit unterschiedlichem Pensum. Carla hat als G8-Schülerin zweimal Nachmittagsunterricht, Helena nicht. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Sind Turbo-Gymnasiasten wirklich schneller? Darauf gibt ein Lehrerteam des Wilhelms-Gymnasiums in Stuttgart-Degerloch unterschiedliche Antworten. Und klärt über eine Missverständnis zu G9 auf.

Stuttgart - Sind Turbogymnasiasten wirklich schneller? Darauf gibt ein Lehrerteam des Wilhelms-Gymnasiums (WG) in Stuttgart-Degerloch unterschiedliche Antworten. Das WG ist die einzige Schule in Stuttgart, die Fünftklässler sowohl in einen achtjährigen als auch einen neunjährigen Zug aufnimmt. Wie auch die beiden anderen (reinen) G9-Gymnasien in Stuttgart kann sich das WG vor Anmeldungen kaum retten: 81 Kinder drängten in die beiden G9-Klassen, 62 wurden aufgenommen, acht G9-Bewerber wurden in die G8-Klasse umgelenkt – per Los; elf Kinder erhielten Absagen. Diese Gemengelage sagt viel aus über die unterschiedliche Beliebtheit der beiden Geschwindigkeiten zum Abitur. Aber kommen Turbogymnasiasten wirklich rascher zum Ziel? Bleibt darüber alles andere auf der Strecke? Und haben es G9-Schüler wirklich leichter? Oder sind sie nur langsamer?

Den drei letzten Fragen widerspricht Schulleiter Peter Hoffmann klar: Es sei „ein Trugschluss, dass G9 einen niedrigeren Anspruch hat“, sagt er. „G9 bedeutet nicht, dass wir das langsamer oder leichter machen als G8 – es kommt nur langsamer etwas dazu. Die Effizienz einer Stunde soll die gleiche sein.“

So starten am WG zwar alle Fünftklässler mit Englisch, aber mit der zweiten Fremdsprache und dem Fach Geschichte müssen sich die G8-Schüler bereits in Klassenstufe sechs beschäftigen, die G9er erst in Klassenstufe sieben. „Nicht jedes Kind schafft es, sich so gut zu strukturieren und die Vokabeln und Grammatik zu Hause zu lernen“, sagt Corinna Otte-Hoffmann, die Englisch und Geschichte unterrichtet. Ihre Kollegin Tatjana Bause (Englisch und Mathe) ergänzt: „Wenn die Bereitschaft nicht da ist, gehen die Vokabeln nicht in den Kopf.“

Bei den G9-Schülern kommt jedes neue Fach erst später dazu

In Klassenstufe sieben kommt auf die G8er bereits Physik zu, bei den G9ern erst ein Jahr später, nämlich in Klassenstufe acht. Da jedoch wird den G8ern bereits die Entscheidung über das Profil abverlangt – „das ist schon sehr früh“, sagt Hoffmann im Blick auf die zwölfjährigen Turboschüler und die Wahl zwischen der dritten Fremdsprache und NWT (Naturwissenschaften und Technik). Auch Chemie und Gemeinschaftskunde bekommen die G8er in Klasse acht draufgesattelt, was bei den G9ern ein Jahr später dazukommt. Hoffmann räumt ein: „Dadurch haben die G9-Kinder von Grund auf eine Entlastung.“ Insbesondere Kinder, die Leistungssport treiben, die fünf- oder sechsmal die Woche schwimmen oder Tennis spielen gehen, wählten bewusst die gestreckte Variante, erzählt der Schulleiter. „Es gibt aber auch Hochleistungs-Eiskunstläufer, die durchs G8 gelaufen sind.“ Manche Kinder hingegen seien „totale Gymnasiasten, aber verspielt und brauchen länger – nicht fürs Verstehen, sondern für ihre persönliche Entwicklung“. Vielen Eltern von G9ern gehe es bei der Reifeprüfung auch um persönliche Reife, nicht allein um intellektuelle Machbarkeit.

Gewissermaßen als Nebeneffekt erhalten die G9er zudem eine breitere Bildung. So habe man das Mathekonzept dort fürs erste Halbjahr der Klassenstufe neun so überarbeitet, dass das bisher Gelernte vertieft und das Neue vorbereitet werden könne, berichtet Tatjana Bause – eine Art Puffer zum Üben.

G9-Schüler haben in der Kursstufe einen Vorteil: sie haben mehr gehabt und sind reifer

In Englisch hingegen laufe der Unterricht in den Klassenstufen fünf bis zehn bei beiden Zügen „völlig parallel“, versichert Otte-Hoffmann. Klassenstufe elf können die G9er als Mehrwert verbuchen. Nicht nur weil in dieser Zeit die Inhalte aus der Mittel- und Unterstufe vertieft werden. Die G9er lernen auch, Statistiken zu analysieren, beschäftigen sich mit Cartoons, haben als Fach Debating und mehr Zeit für Textproduktionen. „G9-Schüler haben in der Kursstufe einen Vorteil“, sagt Otte-Hoffmann, „die haben mehr gehabt.“

Ähnlich sieht es im Fach Deutsch aus. Aufklärung, Sturm und Drang, „Werther“, „Nathan“, „Kabale und Liebe“ haben beide Züge, die G9er aber erst in Klasse elf, berichtet Hoffmann, der auch Deutsch unterrichtet. In der zehnten Klasse beschäftigen sich die G9er vor allem damit, Aufsätze zu schreiben: „Essay, Erörterung – das will geübt sein“, sagt Hoffmann. Aber er versichert: „Wir dürfen die G8er nicht benachteiligen – die üben das auch.“ Sie haben halt weniger Zeit dafür. Mit den G9ern würde Hoffmann gern ein antikes Drama machen, „Antigone“ zum Beispiel. Oder politische Rhetorik – nach dem Motto: „Jetzt halten wir mal ’ne Rede.“ Dies sei, so Hoffmann, „nichts, was man braucht, um in die Kursstufe zu gehen – aber ein Mehrwert.“

Turbogymnasiasten haben weniger Zeit, aus ihrem pubertären Habitus rauszukommen

Und was haben die G8er für einen Mehrwert? „Die sind früher fertig“, sagt Hoffmann. Die allergrößte Herausforderung bei G8 sei, „dass die Schüler es sehr schnell schaffen müssen, vom Mittelstufenmodus in den der Kursstufe zu kommen“. Dabei gehe es nicht nur darum, die Inhalte zu bewältigen, sondern auch um eine neue Haltung. Otte-Hoffmann präzisiert das: Es gehe darum, selbstständig Kurse zu wählen, sich bei Bedarf Hilfe zu holen und alles eigenständig zu organisieren. „In der Kursstufe ist keine Zeit mehr fürs pubertäre Nicht-lernen-Wollen“, ergänzt Bause. Wer sich da hängen lasse, bezahle das mit einem schlechteren Abi. Denn anders als in früheren Zeiten zählten die Abiprüfung ein Drittel, die Ergebnisse aus der Kursstufe eins und zwei jedoch zwei Drittel, betont Hoffmann. Einige Schüler realisierten dies aber erst spät. „Wir haben eine relativ hohe Wiederholerquote nach der ersten Kursstufe.“ Die Schüler wiederholten freiwillig, um ihren Schnitt zu verbessern – das sei aber „selten ein Erfolgskonzept“, meint der Schulleiter, denn es fehle der Mehrwert.

Dass aus dem Mathe-Bildungsplan vieles herausgefallen sei und weniger Zeit zur Vertiefung bleibe, versuche man durch die Zusammenarbeit mit Unis zu kompensieren. An dem freiwilligen Wahlfach, das zum Abi zähle und für das es auch ein Uni-Zertifikat gebe, beteiligten sich mal drei von 55 Schülern, mal sei es auch ein Viertel des Jahrgangs. Dabei versichert Tatjana Bause: „Wer das macht, hat bessere Chancen.“